Chaim Noll legt Autobiographie vor
Von Martin Jehle

Chaim Noll hat mit „Der
Schmuggel über die Zeitgrenze“
(Verbrecher Verlag,
2015, 486 Seiten) autobiographische
Erinnerungen vorgelegt.
Noll, der im Juli 61 Jahre alt
wurde, lässt darin seine ersten 30
Lebensjahre Revue passieren. Dieser
Zeitabschnitt endet mit der
Ausreise Nolls aus der DDR in
die Bundesrepublik, eine von vielen
Zäsuren in seinem Leben.
Als Hans Noll 1954 in Ost-Berlin
geboren, wächst er in einer staatsund
SED-treuen Familie auf. Sein
Vater ist der Schriftsteller Dieter
Noll (1927-2008), der seit seinem
Anti-Kriegsroman „Die Abenteuer
des Werner Holt“ zum offiziellen
Literatur-Kanon des per Eigendefinition
„Arbeiter- und Bauernstaates“
gehört (selbst in der großen
Sowjetunion war das Buch
ein Erfolg).Der junge Noll wächst
privilegiert auf, sowohl in materieller
Hinsicht als auch was Zugänge
zu Menschen und Möglichkeiten,
etwa Reisen in die
Sowjetunion, betrifft. Er lässt sich
dennoch nicht einnehmen, nicht
zum Diener des Systems machen.
Mit seinem Talent und der familiären
Herkunft hätte er sich bequem
in der DDR einrichten können,
als Teil des staatlich getragenen
und den Staat tragenden
Kunst- und Kulturbetriebes. Zunächst
scheint es auch danach
auszusehen, dass sein Weg diesen
Verlauf nimmt. Noll studiert an
der Kunsthochschule Weißensee
Malerei, wo sein Schwiegervater
Werner Klemke eine Professur
hat, wird Mitglied der SED, doch
seine Erinnerungen an die DDR
enden mit der Ausreise in die
Bundesrepublik im Jahr 1984.
Den Weg dorthin erzählt Noll präzise,
anektdotenreich und reflektierend:
Das Ost-Berlin der 1950er
mit Schutthaufen im Straßenbild,
ausgebrannten Hinterhöfen und
Luftschutzbunkern, in denen immer
noch Leichen gefunden werden.
Der im Verborgenen liegenden
jüdischen Herkunft seiner Familie
spürt Noll nach, das Misstrauen
seiner Eltern gegenüber
ihrer Umwelt bei gleichzeitigem
Bekenntnis zum neuen, „antifaschistischen“
Staat entgeht der
kindlichen Psyche nicht. Verfolgung
und Benachteiligungen in
der NS-Zeit wirken hier nach,
auch wenn sich die Großeltern
Nolls mit Hilfe von Zufall und
Geschick bis Kriegsende retten
konnten. In der Familie ist dieses
Kapitel tabu, den jungen Hans
interessiert es dafür umso mehr.
Noll gelingt es, Eindrücke und
Stimmungen authentisch wiederzugeben
und ein Gefühl für die
Zeit zu vermitteln. Die kleinen
jüdischen Gemeinden in der DDR,
die Ende der 1940er Jahre und
1950er Jahre einen Großteil ihrer
Mitglieder durch Flucht in den
Westen verlieren, fristen ein Schattendasein.
Zwar sind im Staatsapparat
nicht wenige Menschen
mit jüdischer Herkunft zu finden,
von denen aber viele ihr Jüdischsein
zugunsten der kommunistischen
Sache als ein überwundenes
Kapitel betrachten. Das Milieu
der Re-Immigranten und jüdischkommunistischer
Funktionäre ist
keine Basis für eine Wiederbelebung
jüdischen Lebens in der
DDR. Der Staat hat auch kein Interesse
daran. Noll schreibt in seinem
Nachwort zum Umgang mit
Juden in der DDR das Folgende:
„(…) das schattenhafte Dasein
der Juden in der DDR, ihre Überwachung,
ihr von der Partei verordnetes
Aussterben. Ein weiterer
Versuch, jüdisches Leben zu verhindern.
Ein stilles, verschwiegenes
Geschehen, das die meisten
Deutschen kaum bemerkt haben,
weder im Osten noch im Westen.
Inmitten ständiger Beteuerungen
vom „Antifaschismus“, vom
„Neubeginn“, von der „Überwindung
der Vergangenheit“ wurde
ein weiteres Mal eine jüdische
Bevölkerung in Deutschland dezimiert.
Nicht, indem man die
einzelnen Exemplare umbrachte,
wie es die Nazis getan hatten,
sondern indem man die Gemeinschaft
als solche am Fortleben
hinderte, jeden Nachwuchs unterdrückte,
sie aussterben ließ.
Ein vom Vergessen bedrohtes Detail
deutscher und jüdischer Geschichte,
von dem ich denke, es
sollte festgehalten werden.“
Die Schilderungen Nolls sind Innenansichten
aus dem Milieu seiner
Herkunft, der DDR-Kulturelite.
Sie zeigen, wie sich Noll als
junger Mann von diesen Kreisen
innerlich entfremdet und schließlich
ganz abwendet, seinen eigenen
Weg geht, gegen Widerstände und
für den Preis seiner sozialen und
bürgerlichen Einbettung in der
DDR-Oberschicht. Er nimmt den
Bruch mit seinem prominenten
und staatstreuen Vater in Kauf,
für den die Entwicklung des eigenen
Sohns Enttäuschung und
Ansehensverlust bedeuten. Mehr
als ein Jahrzehnt haben er und
sein Vater deshalb überhaupt keinen
persönlichen Kontakt. Die
Vorgeschichte und die Umstände
der Ausreise aus der DDR stellt
Noll in seinen Einzelheiten dar:
Wehrdienstverweigerung, psychiatrische
Behandlungen, Behörden-
und Spießrutengänge, das
Abwenden von Menschen, aber
auch manche heimliche, unerwartete
Solidaritätsbekundung.
Das Buch ist gespickt mit zahlreichen
detailreich erinnerten Geschichten,
Begegnungen, Begebenheiten,
Auftritten von Personen
aus der DDR-Öffentlichkeit, aber
auch unbekannten Zeitgenossen.
Noll ist ein genauer Chronist, der
viele Dialoge wiedergibt, wohl
basierend auf Tagebuchaufzeichnungen,
der die Brille und Sichtweise
seiner Jugend aufsetzt und
mit Wertungen aus der Distanz
von heute verknüpft. Dabei gelangt
er zu positiven, aber auch unschmeichelhaften
Urteilen, wie in
der Passage über seine Schriftsteller-
Kollegin Monika Maron:
„Monika war die Stieftochter des
früheren DDR-Innenministers, der
nach dem Krieg aus Moskau gekommen
war, als Mitglied der
‚Gruppe Ullbricht‘, sie lebte in
dessen Villa in Pankow und kannte
‚alle Welt‘. Als wir zusammen
Wodka tranken, machte sie abfällige
Bemerkungen über die
DDR und den hiesigen Sozialismus,
doch ich hatte das Gefühl,
besser nicht darauf einzugehen.
Agi warnte mich vor ihr, indirekt,
indem sie sich, als sie von Monikas
Besuchen in meiner Wohnung erfuhr,
über meine ‚Naivität‘ lustig
machte, mit jedermann offen zu
reden. (…) Spätere Enthüllungen
über Monikas Zusammenarbeit
mit der Stasi haben mich nicht
wirklich erstaunt. War sie eine
der anonymen Quellen, die in
meiner ‚Stasi-Akte‘ zitiert werden?“
In einem Appendix geht Noll unter
der Überschrift „Meine Akte, ein
Spiegelbild“ auf die Bespitzelung
durch die Stasi ein. In das umfangreiche
Aktenmaterial hat Noll
einmal, 1992, Einsicht genommen,
in der „Zentralstelle“ des Bundesbeauftragten
für die Stasiunterlagen
in der Normannenstraße.