„Convergencie“ - Geschichte(n) um ein Rockalbum
Von Matthias Horwath

Wann schon einmal hat ein
kleines Land wie die Slowakei
die Möglichkeit,
von der großen weiten Welt wahrgenommen
zu werden? Der amerikanische
Präsident George W.
Bush etwa verwechselt anlässlich
seines „Krieges gegen den Terror“
die Slowakei mit Slowenien. Vor
wenigen Tagen nun geriet das Land
nach langer Zeit wieder einmal für
kurze Zeit in die globalen Schlagzeilen,
weil es dem europäischen
„Rettungsschirm“ für Griechenland
nicht zustimmen wollte. Doch schon
nach zwei Tagen kippte der Widerstand.
Um die Bedeutung eines selten rezipierten
slowakischen Rock-Albums
verstehen zu können, muss
die politische Geschichte in den
Fokus rücken: Das Land an Donau
und Vah mit seiner Haupstatdt Bratislava
hat es in sich. Die stolzen
Slowaken hatten außer einer Episode
im 9. Jahrhundert immer als
Pünktchen auf der Landkarte zu
leben. Das Reich der Habsburger
etwa ist nur einer davon. Die Wirren
nach der Auflösung Österreich-
Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs
führt die Slowakei in die
Union mit den Tschechen, die
Tschechoslowakische Republik
CSR. Hitlerdeutschland zerschlägt
1938 große Teile davon und verleibt
sie sich ein. Ein weiteres Mal erhält
die verbliebene Tschecho-Slowakei
die Aufmerksamkeit der Welt, als
nach dem Münchner Abkommen
von 1938 Hitler und sein Außenminister
Ribbentrop den katholischen
und noch relativ gemäßigten
Politiker und katholischen Priester
Jozef Tiso nach Berlin einfliegen
lassen und ihm, wie gewohnt, mit
einem teuflischen Plan die Pistole
auf die Brust setzen: entweder das
Parlament in Pressburg ruft sofort
die so genannte „Selbständigkeit“
der Slowakei aus oder das faschistische
Ungarn besetzt und zerstört
umgehend die kleine Nation. Die
Würde des Menschen ist antastbar!
Tiso lenkt fortan im Schatten des
Hakenkreuzes die Geschicke des
Landes. Er weiß sich zu Beginn
noch gegen extremere Nationalisten
und Faschisten im eigenen Land
leidlich zu wehren, verstrickt sich
jedoch zunehmend mit dem Naziregime.
Er ist offenbar kein sonderlicher
Judenhasser, aber ein
ökonomischer Antisemit und ein
Kompromissler, der 1947 von der
nächsten Stempel- Großmacht, der
Sowjetunion, als Kriegsverbrecher
hingerichtet wird.
Die Slowakei, nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs wieder im Verbund
mit den ungeliebten Tschechen,
bleibt auch während der sowjetisch-
kommunistischen Diktatur
der CSSR ein Vielvölkerstaat. Abgesehen
von den ermordeten und
vertriebenen Juden leben Slowaken,
Tschechen, Ungarn, Deutsche,
Roma und weitere Nationen relativ
passabel miteinander. Das kleine
Land mit seinen grandiosen Landschaften
- es beherbergt mit zehn
Gipfeln über 2.000 Metern die
höchsten Ausläufer der Karpaten -
werkelt ökonomisch im Maschinenbau,
in der Waffenproduktion,
in der Landwirtschaft und nicht
zuletzt im Tourismus. Medial sehr
an das nahe Wien gekoppelt, kann
über die noch immer allgegenwärtige
deutsche Sprache der freiere
Westen in die Wohnstuben eindringen.
Durch den Tourismus erscheint
ein bescheidener Wohlstand. Symbol
dafür wird das kleine Auto,
und wer es zu was gebracht hat,
zeigt sich gern mit einem Fiat 850,
einem oberschicken Flitzer, der aus
jugoslawischer Gestattungsproduktion
„Zastava“ heißt und zum begehrten
„Mini“ des Sozialismus
gerinnt. Eine Nation wird selbstbewusst,
der Sozialismus steht
gerne auf dem Papier, aber im
kleinteiligen Leben sieht die Slowakei
anders aus.
Mit 15 Jahren sitze ich in Stary
Smokovec auf einer Bank. Plötzlich
kommt ein schmaler Anzugträger
im Hotelblau mit güldenen Manschettenknöpfen
auf mich zu:
„Kennst du slowakische Mädchen?
Du musst sie lieben!“ Nichts ahnend,
was Zuhälter oder Prostituierte
sind, aber selig mit in Smokovec
erworbenen Schallplatten
der holländischen „Exeption“ sowie
der „Collegium Musicum“ unterm
Arm, lasse ich den armen Tropf
erfolglos davonziehen. Es ist Sommer
1973. Der Einfluss des Westens
auf die Slowakei erscheint durch
den Hochgebirgstourismus der Tatra
wie duch die Nähe zum Westen -
trotz Zerschlagung des Prager Frühlings
- unaufhaltsam. Vom Westen
wie gewohnt nicht wahrgenommen,
entfaltet sich ab den 60er Jahren
eine kleine Rockszene im Land.
Die „Soulmen“ etwa verfolgen
„Westcoast“ beinflussten Rock;
Bands wie „Prudy“ und „Gattch“
veröffentlichen 1969 bzw. 1970
schon eher slawisch geprägte Psychedelic-
Alben. Schließlich ist es
ein Slowake, ein Pop-Art-Künstler,
zu dem alle Größen der amerika-
nischen Woodstockzeit aufschauen:
Andy Warhol! Bei ihm in NYC
gehen sie alle ein und aus: Dylan,
Hendrix, Jim Morrison und - last
but not least - die „House-Band“
des Künstlers: „Velvet Underground“
mit Nico, Lou Reed ...
Die Jungs von „Collegium Musi-
cum“ um den exzentrisch auftretenden
Organisten Marian Varga
zeigen sich vor allem von der Welle
des damaligen Artrock beeinflusst.
Eine erste LP erscheint 1970 mit
englischen Lyrics, mit Haydn und
Bluesroots. Ihr zweites Album,
„Covergencie“, wird mit graphisch
sehr hochwertigem Cover und slowakischen
Lyrics und slowakischdeutschen
Linernotes auf den Markt
gebracht. Die slowakischen Lyrics
von Varga und Peteraj sind unbedingt
als Ausdruck eines neuen,
selbsbewussten Geistes zu verstehen.
Wenngleich musikalisch der
Bezug zu den britischen Vorbildern
nicht zu überhöhren ist, bringt
dieses Album doch sehr viel mehr
als eine eigene Note ein. Es mischen
sich slowakische Volkslieder, infantile
Gesänge, Bartok, klerikale
Musik aus dem katholisch-slawischen
Gottedienst mit gängigen
Popsongs der Zeit. Der Sound des
Albums hält sich hell. Die Bevormundung
des Stalinismus wird hier
genauso weit hinausgedrängt wie
die mentale Bevormundung durch
die so genannten Originale aus
dem Westen, die Ostkünstler grundsäzlich
in den Rang der zweiten
Wahl stellen. Die Themen kreisen
sich auf drei Seiten immer wieder
auf ein Grundthema ein und münden
auf der vierten Seite in einer
streckenweise atonal querschlagenden
und alles Harmonische hinwegfegenden
Orgel-Improvisation
Marian Vargas. Seine Klangkonzeption
wird nicht vom lieblichkuschligen
Hammond-Sound, sondern
von eher sperrig anmutenden
Klängen geprägt. Dieser Klang entfernt
sich somit vom manchmal
auch prahlerischen Gehabe seiner
Vorbilder wie Emerson, Lake &
Palmer. Der ökonomische Autismus
der Ostblockländer führt zudem
zu kreativen Blüten. So setzt Varga
einen in der frühen DDR konzipierten
Sythesizer ein, das „Subharchord“.
Eines der heute nur
noch selten zu findenden Exemplare
kann im Technischen Museum Wien
bestaunt werden.
Eines Tages, Anfang der 90er
Jahre, versammelt sich mitten auf
der Autobahn zwischen Brno und
Bratislava eine Riege von „Tellermützen“,
die mit miesepetrigen
Gesichtern Grenzkontrolle spielen.
(Es ist das alte Lieblingsspiel des
Ostens.) Die Welt dreht sich weiter,
auch in der Slowakei. Die Slowakei
trennt sich 1992 von den Tschechen.
Die „Collegium Musicum“ sind
längst Geschichte, der Kommunismus
auch.
Das Album „Convergencie“ ist
heute im Internethandel auf CD
wieder erhältlich, so wie alle anderen
Alben der „Collegium Musicum“
auch. Für den Einsteiger
sei „Live“ von 1973 empfohlen.
Das Rumpftrio mit Bass, Schlagzeug
und Orgel tobt sich mit ungebremster,
beinahe aggressiver
Spielfreude aus, ohne dass dem
Skeptiker slowakische Texte im
Wege stünden, die hierzulande sowieso
keiner versteht. Wo liegt
nochmal Slowenien?