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"Das große Heft" - Ein Meisterwerk aus Ungarn

Von Thomas Steierhoffer



Eigentlich bleiben in „Das

große Heft“ des ungarischen

Regisseurs Janos Szász alle

Figuren namenlos. Bis auf eine:

der jüdische Schumacher in jener

Kleinstadt Ende des Zweiten Weltkrieges,

in der Zwillinge bei ihrer

Großmutter (Piroska Molnár) mehr

vegetieren, denn leben. Ihre Mutter

(Gyöngyvér Bognár) hatte sie aus

Budapest zu dieser dicken Frau

gebracht, die alle nur die „Hexe“

nennen. Die Hexe lässt ihre Enkel

hart arbeiten, manchmal sperrt sie

sie über Nacht aus, zu Essen gibt

es oft tagelang nichts für die Knaben.

Doch die wollen sich abhärten

- für den Krieg. Und so schlagen

sie sich gegenseitig mit der flachen

Hand, der Faust oder einem breiten

Lederriemen. „Es tut nicht weh,

es tut gar nicht weh!“, schreien sie

sich an und kämpfen gegen den

Schmerz. Bei ihrer Großmutter erleben

sie häusliche Gewalt, die

Kinder müssen sich den gegebenen

Umständen anpassen, ohne dass

sie jemand beschützt, erzieht oder

führt. Sie sind gezwungen, ihre eigenen

Moralvorstellungen auszubilden

und sich in Selbstkontrolle

zu üben. Ihr Repertoire angelernten

Verhaltens reicht von Gefühlskälte

über Hungern und Betteln bis hin

zum Stehlen und Töten. Die beiden

sind sich darüber einig: Diese Dinge

benötigen sie im Alltag. Ihre autodidaktische

Ausbildung sowie die

zeitgleich stattfindenden Bombardierungen

und die Verfolgung der

Juden dokumentieren die beiden

Jungen ganz sachlich in einem großen

Heft. Hier notieren sie auch

ihre größte Angst: die Trennung.

Eines Tages lernen sie ein Mädchen

kennen, das mit ihrer Mutter in

unmittelbarer Nachbarschaft zum

halb verfallenen Haus der Hexe

lebt. Sie ist eine Diebin und bringt

den Jungen die Grundlagen ihres

Handwerks bei. Als der Winter mit

Schnee und Eiseskälte hereinbricht,

sind die Zwillinge auf der Suche

nach Geld, um sich warme Stiefel

machen zu lassen. Das Mädchen,

das die beiden nur „Hasenscharte“

nennen, gibt den Tipp, sich beim

Pfarrer zu melden. „Geht zu dem,

denn er hat mir viel Geld gegeben,

weil ich ihm meinen Schlitz gezeigt

habe“, sagt sie. Die Zwillinge machen

sich auf den Weg, um den

Priester zu erpressen. Mit dem

Geld in der Hand besuchen sie den

Schumacher und erzählen ihm von

ihrem Schicksal. Der Mann hat

Mitleid und schenkt den Zwillingen

je ein paar warme Winterstiefel.

Plötzlich taucht eine blonde Schönheit

im Haus der Hexe auf, um

Kartoffeln für den Pfarrer zu kaufen.

Die Knaben tragen ihr die zehn

Kilo nach Hause, wo das Mädchen

bereits einen Badezuber gefüllt hat.

Sie entkleidet sich und lässt ihre

kleinen, aber festen Brüste im Wasser

kreisen. Plötzlich zieht sie die

Jungen, die noch in blauen Unterhosen

vor dem Trog stehen, zu

sich in Wasser, streift ihnen die

Unterwäsche ab und packt ihre

Füße, die sie sich fest zwischen

die Schenkel drückt. „Schade, dass

ihr noch nicht erwachsen seid“,

stöhnt sie und verdreht die Augen

im Orgasmus. In diesem Momentder

Lust bricht tumultartiger Lärm

in die Szene. Vor dem Fenster der

strohblonden Jungfrau werden die

Juden des Ortes zusammengetrieben.

Das Mädchen öffnet ihr Fenster

und gibt den Pfeilkreuzlern zu verstehen,

dass sie auch den Schumacher

mitnehmen müssten. Zwei der

Hescher treten die Tür seiner Werkstatt

ein und erschlagen den Mann

mit seinem eigenen Hammer. Die

Zwillinge sind entsetzt, rennen in

die Werkstatt und finden ihren

Wohltäter in einer riesigen Lache

seines eigenen Blutes. Beide ziehen

ihre Mützen vom Kopf und verneigen

sich vor dem Toten. Sie

blicken sich tief in die Augen und

rennen zum Hof ihrer Großmutter.

Unter der Bank des Hauses, in

dem der SS-Kommandant eines in

unmittelbarer Nähe gelegenen Konzentrationslagers

einquartiert ist,

hatten sie ein paar Tage zuvor das

Gewehr und die Munition eines

verhungerten und erfrorenen ungarischen

Soldaten vergraben, den

sie kurz vor seinem Tod im Wald

gefunden hatten. Sie nehmen die

eiförmigen Handgranaten heraus

und besuchen das Mädchen mit

den strohblonden Haaren noch einmal.

Sie ist nicht in ihrer Kammer,

aber der Ofen ist für das nächste

Feuer bereits vorbereitet. Die Zwillinge

werfen drei oder vier Granaten

hinein und verschwinden. Froh gelaunt

kommt die Blondine zurück,

freut sich schon auf die wohlige

Wärme ihres Ofens und entzündet

den Span ...

Wer einmal „Das große Heft“ von

Ágota Kristóf gelesen hat, den lässt

diese Geschichte so schnell nicht

los. Eine Chronik der schleichenden

Entmenschlichung zweier Kinder

zu Kriegszeiten, die vor allem deswegen

so niederschmetternd ist,

weil die beiden sie in knappen, tagebuchartigen

Aufsätzen selbst beschreiben.

Bevor er wieder an die

Front musste, hatte ihr Vater (Ulrich

Matthes) ihnen ein großes Heft gegeben,

in das die beiden Knaben

alles, aber wirklich alles eintragen,

was sie erlebten. Besonders niederschmetternd

ist dabei ihre Darstellung

von Krieg, Tod, Konzentrationslager

und Blut. Einem Daumenkino

gleich zeichnen sie diese

Hölle als Strichmännchen.

Szász hat im Verhältnis zum Roman

in seinem Film einiges etwas entschärft:

Die Zwillinge, beeindruckend

gespielt von András und

László Gyémánt, sind statt neun

etwa 13 Jahre alt; und die im Buch

explizit beschriebenen sexuellen

Erfahrungen, die ihnen von jener

skrupellosen Magd und dem bei

der Großmutter einquartierten SSOffizier

(Ulrich Thomsen) aufgezwungen

werden, werden nur angedeutet.

Das große Heft,

Ungarn 2013, FSK 12

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