Das Matterhornund die Muschel - Milan Peschel als „Lenz“endlich auf DVD zu sehen
Von Thomas Steierhoffer

Regisseur Lenz bricht spontan die Arbeit an
seinem neuen Film ab und irrt in den Alpen auf
den Spuren von Büchners „Lenz” umher. Er
erfährt, dass sich sein neunjähriger Sohn Noah in
Zermatt aufhält, sucht ihn auf, richtet sich in einer
Hütte am Fuß des Matterhorns ein und erlebt
glückliche Tage, die sich verlängern, als es zu
einem Wiedersehen mit seiner Ex-Ehefrau Natalie
kommt. Das Vater-Mutter-Kind-Idyll ist jedoch
nur von kurzer Dauer
"Für M." ist weiß auf schwarz
in Zelluloid gestanzt. Was
mag „M.“ bloß bedeuten?
Mona, Mausi, Marianne, Muschi,
Muschel oder gar Matterhorn? Mit
Widmungen ist es so wie mit Offenbarungen.
Beide sind Privatsache,
Intimsphäre. Und so bleibt
uns nichts als Mutmaßung und die
rein interpretatorische Frage, was
sich hinter diesem „M.“ verbergen
könnte, das Thomas Imbach seinem
„Lenz“ voranstellt. Inspiriert
von Georg Büchners Fragment hat
der Schweizer Filmemacher seinen
Lenz (Milan Peschel) nach Hause
geholt. Einen 36-Jährigen, der nicht
besonders gut Gitarre spielen kann,
seinem Sohn, den er nahezu abgöttisch
liebt, jedoch die Klassiker
der Beatmusik zum besten gibt.
Nach der Lektüre der Tagebücher
von Kurt Cobain greift der eigentlich
in Berlin lebende Filmemacher
schon gern mal zum Saiteninstru-
ment und stümpert „Whish you
were here“. Ich wünschte, du
wärest hier, zieht sich dann auch
wie ein roter Faden durch den Film.
Sehnsucht, Einsamkeit, Kreativität,
Wahnsinn, Lust – das sind wohl
einige Stichworte aus dem irdischen
Jammertal, denen Imbach
auf die Spur zu kommen versucht.
So zeigt er das Matterhorn (M.) in
grandiosen Licht- und Wolkenspielen.
Immer wieder taucht der
Berg in seinem Film auf. Mal
sonnig verspielt, mal bedrohlich
aufragend, mal sanft und zart, dann
wieder schroff und stolz. Das Matterhorn
ragt als archaisches Phallussymbol
in eine von touristischer
Konsumlust geschundene und
nahezu verbrauchte Schweiz hinein,
in der die Nacht in einem
Hotel am Fuße des Berges ab 500
Franken kostet. „Nur manchmal,
wenn der Sturm das Gewölk in die
Täler warf und es den Wald heraufdampfte,
und die Stimmen an den
Felsen wach wurden, bald wie fern
verhallende Donner und dann
gewaltig heranbrausten, in Tönen,
als wollten sie in ihrem wilden
Jubel die Erde besingen, und die
Wolken wie wilde, wiehernde Rosse
heransprengten, und der Sonnenschein
dazwischen durchging
und kam und sein blitzendes
Schwert an den Schneeflächen
zog...“ (Georg Büchner, Lenz).
Lenz liegt in der Badewanne. Über
sein männlichstes Organ hat er eine
Muschel (M.) gestülpt, die eigentlich
eine Schnecke ist. Er bewegt
seine Lenden und atmet schwer.
Was er da treibt, ist Masturbation
(M.). „... er stand, keuchend, den
Leib vorwärts gebogen, Augen und
Mund weit offen, er meinte, er
müsse den Sturm in sich ziehen,
alles in sich fassen, er dehnte sich
aus und lag über der Erde, er wühlte
sich in das All hinein, es war eine
Lust, die ihm wehe tat...“ (Georg
Büchner, Lenz).
Sehnsucht und Einsamkeit, pure
Natur um ihn herum. Natur, die er
nachts auf seiner Hütte und um
seine Hütte herum ganz für sich
allein besitzt. „... er stand still und
legte das Haupt ins Moos und
schloß die Augen halb, und dann
zog es weit von ihm, die Erde wich
unter ihm, sie wurde klein wie ein
wandelnder Stern und tauchte sich
in einen brausenden Strom, der
seine klare Flut unter ihm zog. Aber
es waren nur Augenblicke; und
dann erhob er sich nüchtern, fest,
ruhig, als wäre ein Schattenspiel
vor ihm vorübergezogen - er wußte
von nichts mehr.“ (Georg Büchner,
Lenz) Nur manchmal kommt sein
geliebter Sohn (Noah Gsell),
manchmal die Mutter seines Sohnes
(Barbara Maurer), die getrennt
von Lenz in Zürich lebt, hinauf zu
ihm. Dem Himmel ein Stück näher
– dann tollen Lenz und Noah durch
die Schneemassen. Sie bauen ein
Iglu, bearbeiten die Gitarre mit
Boxhandschuhen, fahren Ski und
toben die Pisten auf Koffern und
Schlitten hinunter. Irgendwann
reisen beide wieder ab, sehr zum
Schmerz von Lenz. Dann irrlichtert
er in Unterwäsche und barfuß,
manchmal auch im Bademantel
und in Filzpantoffeln vor seiner
Hütte umher. Wenn Touristen vorbeikommen,
bietet er ihnen Schokolade
oder Suppe an. Mit einer
blonden Dänin fachsimpelt er über
Lars von Trier, der in seiner Heimat
„vergöttert“ werde. Imbachs Lenz
ist geprägt von subjektiver Kameraführung
und spontanen Ideen, die
ganz sicher in keinem Drehbuch
standen, so echt und lebendig sind
sie.
Lenz macht der Mutter seines
Sohnes einen Heiratsantrag, kann
sich in seiner Euphorie sogar
vorstellen, mit ihr und Noah in
Zürich zu leben. Dann entschwinden
Frau und Kind. Lenz bleibt
zurück und beklebt die Wände
seiner Bleibe mit ihren Fotos.