Der Mann, der die Frauen liebte - Serge Gainsbourg und seine „Fresse“
Von Thomas Steierhoffer

Warum hast Du Dir nie
die Ohren operieren lassen?“,
fragt die Mutter
ihren Sohn. Zum Zeitpunkt dieser
eher verspäteten Grundsatzfrage
ist das Liebeslied „Je t'aime moi
non plus“ schon lange zum Skandal
geworden und Serge Gainsbourg
ein berühmter Mann, weit über die
Grenzen Frankreichs hinaus. Und
da steht er volltrunken, die Zigarette
zwischen den Lippen, langnasig,
segelohrig an der Seine im nächtlichen
Paris. In seinen Armen hält
er Jane Birkin, die androgyne
Schönheit von der Insel. Die Frau
mit der erotischen Stimme, die eingesprungen
war für Madame B.B.,
deren Mann es ihr ausdrücklich
verboten hatte, bei „Je t'aime ...“
zu stöhnen. Seinen wohl größten
Hit hatte Serge Gainsbourg ursprünglich
für die Bardot geschrieben,
mit der er eine kurze, aber intensive
Liebesbeziehung hatte.
Eine der schillerndsten
Figuren der
französischen Pop-Kultur
Serge Gainsbourg gehört zweifelsohne
zu den schillerndsten Figuren
der französischen Kultur des 20.
Jahrhunderts. Viele sehen in ihm
gar den „Godfather of all French
music“. Der Film „Gainsbourg –
Der Mann, der die Frauen liebte“
zeichnet die zentralen Stationen
seines bewegten Lebens nach und
verfremdet sie mitunter märchenhaft.
So spielt die „Fresse“ eine
besondere Rolle in dem Streifen
des mehrfach ausgezeichneten französischen
Comiczeichners Joann
Sfar. Mit Spinnenfingern und extrem
langer und spitzer Nase sowie
Ohren, die mit Segelohren nur unzutreffend
beschrieben sind, taucht
die „Fresse“ immer dann auf, wenn
Gainsbourg sich zu entscheiden
hat zwischen Malerei oder Musik,
zwischen seiner Ehefrau oder einer
der langbeinigen Damen, die seinen
Weg pflastern sollten. Die „Fresse“
wird zum Alter Ego erst des jüdischen
Jungen im von den Nazis
besetzten Paris, dann des begabten
Malers, schließlich des Sängers,
Pianisten, Komponisten und Musikers
Serge Gainsbourg. Bis hin
zu seinem Tod im Jahre 1991erstreckt
sich die Geschichte, die
alles andere ist als ein Künstlerporträt.
„Mir ging es in erster Linie
darum, mal nicht die Wahrheiten
zu zeigen, die den Menschen Serge
Gainsbourg charakterisierten. Ich
wollte seine Lügen zeigen“, erklärt
Drehbuchautor und Regisseur Joann
Sfar.
Vorlage zu dem Film, der starke
Elemente des Märchens oder gar
der Fabel mitbringt, ist sein umfangreicher
Comicband zu Gainsbourg,
der zugleich Stoffsammlung
und Storyboard war. Anstatt allein
die wichtigen Episoden aus Gainsbourgs
Leben nachzuspielen, sucht
der Regisseur nach der Atmosphäre,
die den Komponisten von Skandalliedern
umgibt. Er geht Gainsbourgs
Zerrissenheit auf den Grund
und seiner Leidenschaft. Und er
findet in der „Fresse“ die Metapher
für die diabolische Kraft, die Gainsbourg
zu Ruhm und Wahnsinn verführt.
Die Pappmaché-Figur ist
durch ein Plakat aus der Nazizeit
inspiriert, das das Gesicht des „bösen
Juden“ zeigt. Der kleine Lucien
Ginsburg – so hieß Gainsbourg eigentlich
– sieht dieses Plakat an
einer Pariser Straßenecke. Er ist
das Kind russischer Juden, die vor
der Revolution nach Frankreich
immigriert sind und dort während
des Zweiten Weltkriegs wieder verfolgt
werden. In dem Gesicht an
der Wand glaubt Gainsbourg seine
eigene „Fresse“ zu erkennen.
Als die Nazis allen Juden im besetzten
Paris befehlen, den gelben
Stern zu tragen, geht der Knabe
Lucien Ginsburg als erster auf die
Präfektur, um „diese historische
Stunde nicht zu vertrödeln“. Die
„Fresse“ ist immer mit dabei. Sie
begleitet ihn in ein Kinderheim
außerhalb der Stadt, in dem er sich
versteckt, schläft mit ihm in einem
Bett und schickt ihn nachts in den
Wald, bevor die Nazis das Heim
nach Juden durchkämmen.
Aber wie ist es um die Musik des
Films bestellt? Sfar legt keinen
Gainsbourg-Klangteppich unter die
Bilder, sondern lässt nur manchmal
ein paar Takte anklingen von diesem
unvergleichlichen Sound. Bruchstückhaft,
aber chronologisch bildet
er das Gesamtwerk der atemberaubenden
Musik der französischen
Pop-Ikone ab. Nicht, dass etwa Orginialsongs
von Konserve verwendet
werden, nein, mit jungen Musikern
werden die Werke Gainsbourgs
teilweise live zu den Filmaufnahmen
eingespielt. Ganz besonders
verblüffend ist die Tatsache,
dass die Schauspieler selbst singen.
Nicht nur ihre äußerliche Ähnlichkeit
zu den Protagonisten ist atemberaubend,
auch die Ähnlichkeit
der Stimmen geht unter die Haut.
Da steht Jane Birkin alias Lucy
Gordon im Studio und haucht und
stöhnt „Je t’aime...“. Und da ist
sie plötzlich wieder präsent, diese
unbeschreibliche Atmosphäre, diese
Lust und Leidenschaft, die der Prüderie
der sechziger Jahre die Erotik
geigte.
Lucy Gordon, die in die Rolle der
Jane Birkin schlüpfte, nahm sich
kurz vor Veröffentlichung des Films
in ihrer Pariser Wohnung das Leben.