Die Japaner und die deutsche Elektronik
Von Thomas Steierhoffer

Die alten Haudegen der Berliner
Avantgarde im Bereich
elektronische Musik sind
wieder da. Und wie! Mit dem in
Tokio live eingespielten Album
„Shibuya Nights“ präsentiert sich
die Band Agitation Free im Sound
des dritten Jahrtausends.
Von allen experimentellen Gruppen
in Deutschland, die in den frühen
70er Jahren ans Licht traten, waren
Agitation Free sicherlich eine der
musikalisch mutigsten und innovativsten
ihrer Zeit. Seit ihren Anfängen
im Jahr 1967 entwickelte
die Band ein Konzept von langen
und freien Musikimprovisationen
und experimentierte mit Flüssigkeitsprojektoren,
integrierten Dia-
Shows und eigenen Filmen in ihren
Live-Shows. Das von Agitation
Free initiierte legendäre „Electronic
Beat Studio“ in West-Berlin entwickelte
sich unter der Leitung
von Thomas Kessler als kreatives
Zentrum auch für Berliner Elektronikpioniere
wie Ash Ra Tempel
und Tangerine Dream.
Den Sound von Agitation Free charakterisiert
die damals bahnbrechende
Elektronik von Michael
Hoenig, der in Deutschland zu den
Besten seines Genres gehört und
der in der Lage ist, atmosphärische
Melodien und kraftvoll aufeinander
geschichtete Klanglandschaften zu
erschaffen, die den Stil der Band
definierten. Ebenso außergewöhnlich
sind die Gitarristen Lutz „Lüül“
Ulbrich und Gustl Lütjens, deren
Fingerfertigkeiten mit Leichtigkeit
in der Lage sind, exotische fernöstliche
Linien oder aszendente
Melodien zu kreieren. Schlagzeuger
Burghard Rausch und Bassist Michael
„Fame“ Günther sind eine
polyrhythmische Rhythmusgruppe
der Extraklasse, die die Musik vorantreibt.
Nach der Veröffentlichung
der zwei Kult-Alben (die Klassiker
„Malesch“ in 1972 und „2nd“ im
Jahr 1973) beim deutschen Ableger
des legendären Vertigo-Labels
trennte sich die Band allerdings
im Jahr 1974.
Obwohl es noch eine Reihe von
posthumen Alben gab (mit Aufnahmen
aus der Zeit zwischen den
Jahren 1972 und 1974) und ein
Studio-Album („River of Return“
1999), dauerte es fast 35 Jahre
nach der Auflösung, bis die ursprüngliche
Band wieder zusammen
kam, um live aufzutreten.
Im Februar 2007 gab die wiedervereinigte
Band eine Reihe von
Konzerten in Tokio. Anlass war
die Einweihung einer Wachsfigur
des Keyboarders Michael Hoenig
in der Progressive Rock-Abteilung
des Tokyo Tower Wax Museums.
Ein Wachs-Ebenbild von Agitation
Free-Gitarrist Lutz Ulbrich steht
dort bereits seit mehreren Jahren.
Wie das Schicksal es wollte, passte
alles perfekt zusammen. Alle drei
Konzerte im „Shibuya O’West“ im
Tokio Shibuya-Bezirk wurden als
Mehrspur-Aufnahme mitgeschnitten.
Hoenig stellte die herausragenden
Versionen in der ursprünglichen
musikalischen Abfolge der
drei Konzerte zusammen. Ergebnis
ist das großartige neue Live-Album
„Shibuya Nights“. Es enthält fünf
Stücke aus „Malesch“ und fünf
aus „2nd“, drei völlig neue Kompositionen
sowie „Nomads“ und
„Das Kleine Uhrwerk“. Perfekt
programmiert ist die Musik wie
eine Sequenz einer Magical Mystery
Tour aus jenen wunderbaren Tagen,
als die Inspirationen völlig frei
flossen. Verwobene Gitarren und
einfallsreiche Synthesizer Klänge
zaubern Audio-Panoramen aus fernen
imaginären Ländern. Die Album-
Produktion brilliert durch einen
makellosen Mix und ebensolches
Mastering. Sie enthält zudem
eine hervorragende Mischung aus
Audio-Verité-Effekten, die zum
Teil aus Originalaufnahmen der
„71er-Tour“ durch Ägypten und
den Nahen Osten bestehen. Flugzeuge,
Gespräche, Züge und Synthesizer-
Sequenzen erzeugen ein
Non-Stop-Hörerlebnis, das der
Phantasie freien Lauf lässt. Musikalisch
bietet es eine Vielzahl von
Höhepunkten, die jeden einzelnen
Track aus den Lautsprechern geradezu
explodieren lässt.
Nahezu zeitgleich ist auch das neue
Soloalbum „Tourkoller“ des Gitarristen
„Lüül“ erschienen. Seine
Musik, die vielen Liebhabern u.a.
von den CDs der „17 Hippies“ bekannt
sein dürfte, kommt auch
diesmal fröhlich und frech, manchmal
zudem bittersüß daher. Ganz
besonders sei hier der Song „Meine
erste hieß Marianne“ erwähnt, in
dem „Lüül“ seiner verflossen Liebschaften
gedenkt. Mit dabei natürlich
NICO, zu der es heißt: „Dann
kam eine große Berühmtheit. Die
Liebe war wie eine Gruft. Wir standen
oft am Abgrund. Manchmal
riech ich noch ihren Duft.“