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Die Wurzeln der Gewalt und ihre Beziehung zur Religion

Wer kennt es nicht, das wohlige Gefühl, überwältigt zu werden? Vergangene Nacht wurden zahlreiche Gäste der "Hildesheimer Vorträge" im Senatssaal der Humboldt Universität zu Berlin regelrecht überwältigt von der Genialität und der rhetorischen Brillanz sowie von der glasklaren Logik und Argumentation in einer zugleich wunderbaren und einfachen Sprache. In feinstem Oxford-Englisch sprach Rabbiner Lord Jonathan Sacks zum Thema "Violence and Law. Ancient and contemporary reflections". Der 1948 in London geborene jüdische Gelehrte gilt heute als globaler religiöser Führer und als bedeutende moralische Stimme unserer Zeit. Er lehrt heute in New York und London Recht, Ethik und Bibel. Von 1991 bis 2013 war Sacks Oberrabbiner der Vereinigung orthodoxer Gemeinden des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth. Seine Forschungen beschäftigen sich mit dem Verhältnis zwischen Gesetz, Religion und Gewalt. Im Juni 2015 erschien sein neuestes Buch unter dem Titel "Not in God's name: Confronting Religious Violence". Hier untersucht der Autor die Wurzeln der Gewalt und ihre Beziehung zur Religion. Dabei wird der Fokus auf die historischen Spannungen zwischen den drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam gelegt.

Bereits zum dritten Mal hatten das 2009 neu gegründete Rabbinerseminar zu Berlin und die Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Humboldt-Universität zu den einmal jährlich stattfindenden "Hildesheimer Vorträgen" geladen. Nach Grußworten und einer Einführung von Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, stieg Rabbiner Lord Sacks ans Rednerpult und entschuldigte sich für den Fakt, dass er seinen Vortrag in Englisch halte, denn der einzige deutsche Satz, den er beherrsche sei: "Ich bin ein Berliner!" Er ermutigte die Zuhörer, falls sie etwas nicht verstünden, sei dies kein Beinbruch, denn er selbst verstehe sich mitunter auch nicht. Die Lacher auf seiner Seite stieg der Philosoph ein in sein Thema. Nicht der "Ödipuskomplex" nach Sigmund Freud, als der Kampf und die aus ihm resultierende Gewalt zwischen Vätern und Söhnen sei die Ursache für die Gewalt zwischen Personen, Familien, Gesellschaften oder Staaten, sondern die Eifersucht und der Neid zwischen Bruder und Bruder, Schwester und Schwester sowie Bruder und Schwester. Sacks erinnerte an den kürzlich im Alter von 91 Jahren verstorbenen französischen Kulturtheoretiker René Girard, den er als den bedeutendsten Forscher im Verhältnis zwischen Religion und Gewalt des 20. Jahrhunderts bezeichnete. 1972 publizierte René Girard sein bahnbrechendes Werk „Das Heilige und die Gewalt“. Seine Theorie beruht auf drei Paradigmen: 1. das Begehren bestimmt den Menschen (mehr als die Vernunft); 2. Gruppen überlebten durch Kanalisation der Gewalt auf ein Opfer („Sündenbockmechanismus“); 3. Sakralisierung der Gewalt („Die Völker erfinden nicht ihre Götter, sondern sie divinisieren ihre Opfer“). Für Girard werden diese Paradigmen in der jüdisch-christlichen Offenbarung überwunden. Als Jude erinnerte Sacks an die Geschichte seines Volkes, das über Jahrhunderte immer wieder in die Rolle des "Sündenbockes" gedrängt wurde bis hin zur fast vollständigen Auslöschung im Holocaust. Anhand von zahlreichern Beispielen aus den fünf Büchern Moses und aus den Briefen des Apostels Paulus machte Sacks anschaulich deutlich, dass Liebe ohne Gesetz ebenso wenig zur Befriedung zwischen den Menschen beitragen könne, wie Gesetz ohne Liebe. Weiter ging es mit Beispielen aus Shakespeares "Romeo und Julia" sowie aus der Jahrtausende alten jüdischen Geschichte, etwa der Übergabe der Gesetzestafeln an Moses auf dem Berg Sinai. Trotz aller Unterschiedlichkeiten innerhalb der gesamten Menschheit und der drei abrahamitischen Weltreligionen betonte der Rabbiner die Gemeinsamkeiten. Denn im universellen Gesetz der "Genesis", welches für alle Menschen gelte, sei von Anfang an gestgelegt, was das GUTE und was das BÖSE ausmache. Sacks erinnerte auch an die jüngsten Terroranschläge von Paris, ohne jedoch Schuldzuweisungen an den Islam zu machen. Vielmehr rief er zum Dialog auf und zur Toleranz, "denn wenn wir alle gleich wären, hätten wir uns nichts zu sagen".


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