Diktatur beginnt mit Erziehung - Psychogramm der totalitären Gesellschaft: "Das weiße Band"
Von Thomas Steierhoffer

Ein Dorf irgendwo in Preußen
am Vorabend des Ersten
Weltkriegs. Mysteriöse Dinge
geschehen auf dem Gut eines
Barons (Ulrich Tukur), dessen
Ehefrau (Ursina Lardi) es vorzieht,
mit ihren Kindern nach Italien zu
gehen, um sich der patriarchalischen
Herrschaft ihres Gatten zu
entziehen. Ein unsichtbar gespanntes
Seil bringt das Pferd des Arztes
vor dessen Haus zu Fall. Der Doktor
verletzt sich schwer und muss
für viele Wochen ins Krankenhaus
der nächsten Stadt. Derweil verunglückt
die Ehefrau eines Bauern
im Sägewerk des Barons tödlich.
Der Schwarzweißfilm des österreichischen
Regisseurs Michael Haneke
hat einen klassischen Erzähler:
den 35-jährigen Dorflehrer
(Christian Friedel), der später um
die Hand des Kindermädchens
(Leonie Benesch) im Haus des Barons
anhalten wird. Die Dorfgemeinschaft
trifft sich sonntäglich
zum protestantischen Gottesdienst,
dessen erster Zeremonienmeister
selbstredend der Pastor des Ortes
ist. Der sittenstrenge Mann im
schwarzen Talar und mit weißer
Halsschleife, gespielt von Burghart
Klaußner, der auch den Konfirmandenunterricht
gibt, lässt seine
pubertierenden Kinder für geringfügige
Vergehen wochenlang ein
weißes Band am Arm tragen. Zur
Erinnerung an die Tugenden der
„Reinheit und Keuschheit“, von
deren Pfad sie nach seiner
Einschätzung abgewichen sind.
Seinen heranwachsenden Sohn
fesselt der fromme Mann nachts an
sein Bettgestell, auf dass er nicht
„den Versuchungen seines jungen
Leibes“ erliegen möge. Zuvor
erzählt er ihm vom Siechtum eines
Altersgenossen, dem ob seiner
suchtartigen Berührungen „der
feinsten Nervenenden seines
jungen Körpers“ zunächst Eiterbeulen
im Gesicht und am ganzen
Körper gewachsen seien, später sei
er von seiner „Sucht und Unkeuschheit“
gar vom Tode hinweggerafft
worden, so der Vater zum
Sohne. Der Pastor züchtigt seine
Kinder, lässt sich von ihnen mit
„Herr Vater“ ansprechen und regel-
regelmäßig die Hand küssen. Eines Tages
findet er seinen geliebten
Wellensittich mit einer Haushaltsschere
erstochen auf dem Schreibtisch
seines Arbeitszimmers. Der
Verdacht richtet sich gegen die
Tochter und den Sohn.
Der Arzt (Rainer Bock), der sich
aufopferungsvoll um die Kranken
des Dorfes kümmert, verachtet und
demütigt die mit ihm heimlich
liierte Hebamme (Susanne Lothar).
Gleichzeitig unterhält er zu seiner
14-jährigen Tochter eine inzestuöse
Beziehung, die das Mädchen
schwer traumatisiert.
Der Baron und Gutsherr aus blaublütigem
Hause lässt seinen Besitz
von einem bayerischen Verwalter
(Josef Bierbichler) führen und
bewirtschaften. In den polnischen
Schnittern, die als Saisonarbeiter
jährlich zur Ernte auf das Gut kommen,
sieht die adelige Herrschaft
nicht mehr als billige Arbeitskräfte.
Während der Feier des Erntedank-
festes, zu dem auch die polnischen
Arbeiter eingeladen sind, werden
die Kohlbeete des Barons mit einer
Sense verwüstet. Sein älterer Sohn
verschwindet auf mysteriöse Weise
und wird erst am nächsten Morgen
gefesselt und misshandelt im Sägewerk
seines Vaters gefunden. Erst
als der behinderte Sohn der Hebamme
ebenfalls entführt und
schwer verletzt aufgefunden wird,
kommt die Polizei ins Spiel.
Nach einer merkwürdigen Begegnung
des Lehrers mit einer Schar
Dorfkinder beginnt dieser, die
Tatumstände zu hinterfragen. Er
spricht mit den Pastorenkindern
und äußert gegenüber dem Pastor
seine Beobachtung, dass im Vorfeld
zu den Taten stets die Kinder
des Dorfes zugegen waren. Der
Pastor sieht seine Kinder schweren
Verdachtsmomenten ausgesetzt
und droht dem Lehrer mit einer
Disziplinarstrafe, sollte er seinen
Verdacht verbreiten. Der Lehrer
fühlt sich in seiner Existenz
bedroht, bekommt Angst und
schweigt. Eine Aufklärung der
Geschehnisse erfolgt nicht, die
Täter bleiben unentdeckt. Dann
wird der österreichisch-ungarischen
Thronfolger Franz Ferdinand
in Sarajevo ermordet. Österreich-
Ungarn erklärt Serbien den Krieg,
der Erste Weltkrieg beginnt.
Zur Grundidee seines Filmes, der
jetzt für den Oscar nominiert ist,
äußerte sich Regisseur Michael
Haneke so: „Ideologie ist eine verabsolutierte
Idee. Überall, wo es
Unterdrückung, Demütigung, Unglück
und Leid gibt, ist der Boden
bereitet für jede Art von Ideologie.
Deshalb ist ‚Das weiße Band‘ auch
nicht als Film über den deutschen
Faschismus zu verstehen. Es geht
um ein gesellschaftliches Klima,
das den Radikalismus ermöglicht.“
Bis auf die Familie des Gutsverwalters,
von der man annehmen
kann, sie ist ihrem bayerischen
Katholizismus mehr oder weniger
treu geblieben, sind alle handelnden
Personen des Streifens Protestanten.
Zur Rolle des Protestantismus
beim Entstehen der deutschen
Diktatur meint Haneke, es
habe ihn „schon immer irritiert,
warum der Faschismus in Italien so
anders ausgesehen hat als in
Deutschland.“ Den Film deshalb
als fundamentale Kritik am Protestantismus
zu verstehen, wäre
jedoch „völliger Unsinn“. Haneke:
„Natürlich hat er einen gewissen
Hang zum Elitismus. Und dieses
Ethos, dass ich mir selbst gegenüber
verantwortlich bin, ist ja auch
etwas Positives. Nur kann man es
auch sehr schnell ins Gegenteil
kehren: Kommunismus ist eine
wunderbare Idee, aber sobald sie
als Ideologie den Weg in die Gesellschaft
findet, wird sie zur Diktatur
und unmenschlich. Die Frage
ist: Wie kippt man in ein solches
System hinein? Und das wiederum
hat immer mit Erziehung zu tun.“
Haneke zeigt die Abfolge gewalttätiger
Ereignisse, bei denen protestantisch-
preußische Tugenden
wie Gehorsam und Disziplin gegenüber
der Obrigkeit zum mitleidslosen
Herrschaftsinstrument
geworden sind. Hass, religiöse Verstiegenheit
und Rachegelüste sind
die Folgen eines obszönen Patriarchats,
unter dem besonders die
Frauen und Kinder leiden. Die
Tragweite des Stoffes ragt deutlich
hinaus über den ersten der großen
Kriege. Jede Geste, jede Haltung,
jeder Ausstattungsgegenstand sind
bewusst gesetzt. „Das weiße Band“
ist ein Meisterwerk!