Dreimal auf Lebenszeit verboten - Jürgen Kerth über sein Dasein als Musiker in der DDR
Ein Interview von Thomas Steierhoffer

Jürgen Kerth wurde 1948 in Erfurt geboren. Er ist der wohl
bedeutendste Blues-Gitarrist aus Ostdeutschland. Kerths
Laufbahn begann 1964 mit der Schülerband „Spotlights“
(zusammen mit Heinz-Jürgen Gottschalk), die sich auf Druck
der SED-Kulturbehörden in „Rampenlichter“ umbenennen
musste und 1966 verboten wurde. Nach einer musikalischen
Ausbildung in der Musikschule Erfurt gründete Kerth 1971 das
Jürgen-Kerth-Quintett bzw. die Gruppe Jürgen Kerth, aus
welcher 1973 ein Quartett und nach dem Tod des Bassisten
Roland Michi im Jahr 1979 ein Trio wurde. Virtuose Gitarrenund
Gesangstechnik prägen seine bluesgefärbte Rockmusik bis
heute. Jürgen Kerth spielte mehrere LPs und Singles ein, eine
Auswahl ist auf dem Sampler „Best of Blues“ enthalten. Kerth
ist seiner Heimatstadt Erfurt bis heute treu geblieben und
engagiert sich als ehrenamtlicher Botschafter der Stiftung
Kinderhospiz Mitteldeutschland Nordhausen e.V. in Tambach-
Dietharz. 1999 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Erfurt.
PANKE-SPIEGEL: Deine bedeutendste
Komposition war wohl die
Hommage an die Glocke des Erfurter
Domes „Gloriosa“. Welche
Bedeutung hat das mehr als 16-
minütige Werk für Dich heute?
Kerth: Ich kann das ganz offen
sagen: Das Lied hat mich persönlich
befreit. Gerade in der Wendezeit
und auch schon Anfang der
80er Jahre habe ich oft während der
Andachten in Leipziger Kirchen
gespielt. Die „Gloriosa“ war immer
mit dabei. Allerdings habe ich da
auch mit „Cäsar“ gespielt. Später
habe ich dann hören müssen, was
das für einer war. (IM der Stasi und
früheres Mitglied von „Renft“ und
„Karussell“, Anm. d. Red.) Häufig
kamen dann Mitglieder der Jungen
Gemeinde zu mir und bedankten
sich für das Stück so oder ähnlich:
„Jürgen, du weißt gar nicht, wie du
uns mit dem Stück den Rücken
gestärkt hast!“ In einer Textpassage
heißt es: „... warum soll man nicht
auch mal etwas andächtig sein?“
Das war dann auch der Grund,
warum ich beim staatseigenen
Plattenlabel „Amiga“ nach dem Album
„Gloriosa“ keine weiteren
Platten mehr aufnehmen durfte.
Der Chef von Amiga teilte damals
mit: „Wir glauben, von Jürgen
Kerth alles aufgearbeitet zu haben!“
Diesen Satz muss man sich
mal auf der Zunge zergehen lassen.
Am Tag der deutschen Einheit, dem
3. Oktober 1990, habe ich „Gloriosa“
in Mainz gespielt. Auf dem
dortigen Domplatz. Früher hatte
Erfurt einmal zu Mainz gehört. Das
erkennt man noch heute an den
Wappen der beiden Städte: ein Rad
im Erfurter, zwei Räder im Mainzer
Wappen. Nach der Wende wurden
die beiden alten Städte wieder Partner.
Es war für mich ein erhebendes
Gefühl, meine „Gloriosa“ dort zu
spielen, ohne Mauer und Stacheldraht.
Auf dem Sampler „Blues
Anthology“ von 2006 ist die Live-
Aufnahme aus Mainz zu hören!
PS: Hatte das so genannte „Kahlschlagplenum“
der SED vom
Herbst 1965 Einfluss auf Deine
Karriere als Musiker in der DDR?
Kerth: Ich erinnere mich noch an
die Bezeichnung „Bitterfelder
Weg“. Was das aber genau war,
kann ich heute nicht mehr erinnern.
Ich war ja einer der ganz wenigen
Musiker in der DDR, der seine eigenen
Texte geschrieben hat. Das
war den Genossen aus der Kaderschmiede
der ostdeutschen Unterhaltungskunst,
dem „Oktoberclub“,
immer ein Dorn im Auge. Kurt
Demmler und Burkhard Lasch
wollten da alles in ihren Griff
bekommen. Mit Parteiabzeichen
und schwarzem Anzug war Lasch
FDJ-Sekretär an der Bauhochschule
in Weimar. Eines Tages
stand er mit seinem Fahrrad an
meinem Zaun mit der Frage:
„Jürgen, kann ich für dich Texte
schreiben?“ Ich habe den voll
abfahren lassen und ihm erklärt,
dass ich meine Texte nach wie vor
alleine schreiben werde. Später, als
er dann so groß geworden war mit
den Puhdys und anderen, habe ich
ihm gesagt: „Du bist doch bei der
Mafia!“ Er antwortete: „Ja, bin
ich!“ Ich erinnere mich noch an
eine bedrohliche Situation. In
einem Winter sprang mein Auto
nicht an. Da kam Lasch mit einem
„Barkas“ vorbei und hat mich
durch hohe Schneewehen angeschleppt.
Nur er stoppte nicht!
Nach etwa zehn Metern sprang
mein Motor an, doch der schleppte
mich mehr als einen Kilometer
über spiegelglatte Straßen. Mir
wurde ganz übel ... Die Geschichte
hinter den Geschichten war mitunter
so knallhart, dass man sich
das heute gar nicht mehr vorstellen
kann.
PS: Sind Dir die Genossen auch
mit Auftrittsverboten oder anderen
Repressionen gekommen?
Kerth: Na klar! Wir sind dreimal
auf Lebenszeit, wie es damals hieß,
verboten worden. Wir haben in
einem Club in Erfurt gespielt, die
Mädchen haben geschrieen, wie es
seinerzeit in Liverpool war. Plötzlich
flogen gegenüber, im Erfurter
Presseclub, die Scheiben ein. Danach
hieß es, wir seien an dieser
Provokation Schuld gewesen. Wir
haben natürlich schnell gemerkt,
dass das genau der Stil der Kulturbonzen
war, mit dem sie auch die
„Buttlers“ verboten hatten. Es
waren immer Nacht-und-Nebel-
Aktionen, die auf Anordnung der
Partei durchgezogen wurden. Das
muss 1966 gewesen sein, unmittelbar
nach dem verfluchten „Kahlschlagplenum“.
Dann haben sie uns
auch noch Steuerhinterziehung vorgeworfen.
Das muss man sich mal
vorstellen, bei 16 Ost-Mark pro
Abend. Roland Michi, unser Basist,
hatte dazu gesagt: „Was, ich soll
auch noch Steuern bezahlen? Wenn
ich nachts um 01 Uhr meine
Bassbox von der Bühne schleppe,
wo ist denn da der Staat?“ Wir
kamen uns vor wie die Beatles. Wir
wollten auch so ein Bandfeeling
haben, wollten klug und hübsch
sein, so wie John Lennon. Und wir
wollten auch so klingen. Doch das
war den Genossen alles andere als
angenehm. Sie bestellten uns ein
mit der Frage: „Was nützt denn der
Beat der Arbeiterklasse?“
PS: Auf den drei bei „Amiga“ erschienenen
Alben singst Du ausschließlich
deutsche Texte. Gab es
auf Deinem musikalischen Weg
auch mal Probleme wegen englischen
Songs, die Du live vorgetragen
hattest?
Kerth: Schon, die erste Band
nannten wir „Spotlights“. Englischer
Bandname! Und diese Band
wurde auf Lebenszeit verboten! Sie
haben uns als „liederlich“ und
asozial bezeichnet. So war das früher!
Also, wir durften nicht mehr
aufeinandertreffen und keine Musik
mehr zusammen machen. Dann
wurde ich von einer Studentenband
angesprochen, die sich „Team 65“
nannte. Da habe ich erstmal illegal
mitgespielt, bis ich aus der Truppe
schließlich die „Joker“ machen
konnte. Live waren wir mit dieser
Band wieder sehr erfolgreich, die
Fans standen total auf uns. Unser
Repertoire ging damals wirklich
kreuz und quer. Die Bee Gees waren
dabei, Foundations, The Turtles,
selbstverständlich The Beatles
und Bob Dylan – beispielsweise
„Mighty Quinn“. Alles englische
oder amerikanische Songs. Und wir
spielten einen meiner großen Favoriten:
Jeff Berry. Unsere große Befürchtung
war damals, dass uns die
„AWA“ beim Spielen der „falschen
Lieder“ erwischen könnte. Das war
quasi die „GEMA“ des Ostens. Die
„Joker“ spielten bis 1968. Dann
kam wieder ein Verbot. Bei einer
Open-Air-Mucke hatte ich auf
einer Lautsprecherbox gesessen
und mit den Beinen gebaumelt.
Dabei sind mir die Sandalen von
den Füßen gefallen. Den Kulturfunktionären
hat das nicht gefallen,
und so hieß es zur Begründung des
Verbots: „Jürgen Kerth spielt barfuß
auf der Bühne.“ Das wurde als
dekadent bewertet. Dieser Staat
war allgegenwärtig. Die Bonzen lagen
immer im Klinsch mit der klugen
Beatles-Zeit.
PS: Deine Musik ist Blues, ist Soul,
ist Raggae. Warum gerade diese
Richtungen?
Kerth: Ich habe Amerika im Herzen.
Nach dem Verbot der „Joker“
habe ich meine dritte Band gegründet.
Wir nannten uns „Unisonos“.
Mit dieser Band wollten
wir dann ein „Woodstock“ veranstalten.
Das funktionierte auch,
etwa 2.000 Leute kamen. Doch das
hat der Partei mal wieder nicht
gefallen. Und so wurde auch diese
Band, die beispielsweise James
Brown spielte, wiederum verboten.
Es hieß dann, auf unserer Bühne
sei Damenunterwäsche gefunden
worden. Völliger Quatsch! Erstunken
und erlogen. Aber unser großer
Traum, im Audimax der Technischen
Hochschule in Ilmenau zu
spielen, war zerplatzt. Die Musik
der schwarzen Arbeiter auf den
Baumwollplantagen des amerikanischen
Südens war offensichtlich
nicht nach dem Geschmack der
Arbeiterklasse und ihrer Partei in
der DDR.
PS: Hattest Du nach drei Verboten
nicht irgendwann die Nase voll von
der Beatmusik, die in der DDR
offensichtlich keine Chance hatte?
Kerth: Nee! Ich wollte unbedingt
Berufsmusiker werden. Das war
nicht so einfach. Ich bin gelernter
Mechaniker, wollte aber den Berufsausweis
als Musiker, die „Pappe“,
wie wir das Ding nannten,
bekommen. Unter anderem habe
ich dann mit Zigeunern in Gera
Bar-Musik gemacht. Die SEDFunktionäre
wollten die Rockmusik
klein halten, und so war der
Berufsausweis für Rockmusiker
auch gar nicht vorgesehen. Ausweise
gab es nur für die so genannte
„Unterhaltungsmusik“. Dann habe
ich das „Jürgen Kerth Quintett“
gegründet. Manchmal nannte ich
die Band auch einfach nur „Jürgen
Kerth“. Damals ging es schon um
die Rechte an meinen Texten und
Kompositionen. Die musste und
wollte ich schützen, so dass ich
künftig nicht ständig betrogen werde,
so wie es mir leider oft passiert
ist. In Sondershausen haben wir
dann den größten Mist gespielt, nur
um die „Pappe“ zu bekommen. Es
hat aber ewig nicht funktioniert.
Dann hieß es, wir sollten zurückgehen
in die Produktion! Das war
sehr heikel, denn wenn Du in der
DDR nicht gearbeitet hast, bist Du
in den Knast gegangen als „asoziales
Element“. Irgendwann hat es
dann doch noch geklappt. Mitte der
70er Jahre erhielt ich den heiß
ersehnten Berufsausweis.
PS: Wo liegen Deine musikalischen
Wurzeln? Welche Musik
spricht Dich bis heute an?
Kerth: Ich bin eigentlich immer
danach gegangen, was mich positiv
angeregt oder erregt hat. Abgestoßen
hat mich immer primitiver
Hardrock, es gab ja damals sehr
viele komische Bands, die das
spielten, etwa „Uriah Heep“. Intelligente
schwarze Musik, die geswingt
hat, die jazzig war, das war
meine Welt! Von Jimi Hendrix bis
Carlos Santana habe ich mich von
allem inspirieren lassen. Ich glaube,
das hört man in meiner Musik
auch, wenn beispielsweise so etwas
wie eine Fusion aus B.B. King und
Santana entsteht. In meiner kleinen
Welt sind viele Kraftlinien buchstäblich
zusammengelaufen. Und
darauf bin ich auch ein wenig stolz.