Ein Meilenstein in der Geschichte des Rock - The Rolling Stones: „Get Yer Ya-Ya’s Out!“
Von Uwe-Jens Hauske

Wir waren in der DDR ja
eher russisch geschult
worden, was jedoch auf
die Masse der Schüler hochgerechnet
nur mittelprächtige Ergebnisse
zeitigte. Irgendwie hielten
wir nicht sehr viel von der verordneten
Freundschaft zur Sowjetunion,
zumal von dort auch keine
anständige Beatmusik kam. Also
freuten wir uns auf den Englischunterricht,
der fakultativ war. Die
Ernüchterung kam jedoch sehr
schnell. Hier wurden keine Songtexte
von Dylan, den Beatles oder
gar den Stones übersetzt, sondern
der darbenden Arbeiterklasse im
kapitalistischen England gedacht,
die gegen Mietwucher, fiese Bosse
mit dicken Zigarren und gegen
ständige Preissteigerungen bei
Grundnahrungsmitteln wie Brot,
Kartoffeln und Milch zu kämpfen
hatte. Einmal gab es jedoch eine
Ausnahme, die wir selbst provozierten.
In unserer illegalen Plattenszene
wollten wir keinesfalls
„Schluss machen mit der Mono-
tonie des Yeah, Yeah, Yeah“, die
uns via „RIAS“, „Radio Luxemburg“,
„AFN“ oder dem englischen
Soldatensender „BFBS“ frei Haus
geliefert wurde. Und so kam ein
Freund eines Tages völlig aufgelöst
in unseren Kreis und schäumte
buchstäblich über vor Begeisterung:
„Gerade haben sie die Stones
gespielt“, jubelte er und hämmerte
dazu wie wild auf seiner Luftgitarre
herum. „Sätisfätschn ist es ganz
einfach, Leute!“ Einige von uns
Langhaarigen kannten diesen bedeutenden
Hit der weltweit lautesten
Rock’n’Roll-Band bereits und
stimmten in die Begeisterung ein.
Plötzlich kam einer auf die Idee,
wir sollten uns den Text des Songs
von unserer Englischlehrerin übersetzen
lassen. Gesagt, getan. Am
nächsten Tag ging es im Englischen
mal wieder um „Tom und Peggy“,
die sich am Lagerfeuer mit einer
Akustikgitarre und den Protestliedern
von Pete Seeger von Ausbeutung
und Unterdrückung
entspannen wollten. Wir fragten
unsere altjüngferliche Englischlehrerin,
die immer das SEDAbzeichen
am Revers ihres züchtigen
Kostüms trug, ob sie nicht
mal „Sätisfätschn“ übersetzen
könne. Ein Kumpel hatte seinen
Kassettenrekorder der Marke
„Grundig“ mitgebracht und drückte
auf den Startknopf: „I can’t get no
sadisfaction...“ dröhnte es durch
den Klassenraum. Das ältliche
Fräulein musste den Text unmittelbar
verstanden und auf sich persönlich
bezogen haben: Sie lief
puterrot an, riss die Augen vor
Entsetzen weit auf und brüllte:
„Schluss! Schluss! Ausmachen!
Ausmachen!“ Ihre Befriedigung
verschaffte sie sich dann beim
Direktor der Polytechnischen
Oberschule (POS), von dem sie uns
tadeln ließ. Unserer Begeisterung
für die Rolling Stones tat dies jedoch
keinen Abbruch.
Wir schnappten alles auf, trugen
alles zusammen, was wir in der
Mangelwirtschaft ergattern konnten.
In allem von Partei und Regierung
Verbotenen lag der besondere
Reiz. Bis jemand tatsächlich das
Stones-Live-Album „Get Yer Ya-
Ya’s Out!“ anschleppte. Seine Oma
hatte es aus West-Berlin in die Zone
geschmuggelt. Und jetzt wurde die
heiße Scheibe im Kreise der Beatfreunde
regelrecht zelebriert. Auf
dem Album war groß zu lesen:
„Stereo“. Leider hatten wir keinen
Verstärker, der Stereo bediente.
Jedoch der Tonabnehmer des Plattenspielers
war bereits auf die
Zweikanaltechnik ausgelegt. Der
Eigentümer der LP griff kurzerhand
zum Lötkolben und stellte
zwei Verbindungen her. Eine
Leitung führte zum Lautsprecher
des Fernsehgerätes seiner Eltern,
die andere direkt hinein in das
Innere seines eigenen Röhrenradios,
das zwar ein „magisches
Auge“ hatte, jedoch nur auf Mono-
Empfang ausgelegt war. Genialer
Streich! Dann begann sich die
Scheibe zu drehen, die Nadel
senkte sich und traf die Rille der
A-Seite. Wir hatten das Gefühl,
einer Offenbarung beizuwohnen.
Von links nach rechts und von
rechts nach links wurde die Band
im New Yorker Madison Square
Garden angesagt: „Welcome the
greatest Rock’n’Roll Band in the
world! The Rolling Stones … The
Rolling Stones … The Rolling
Stones…“ Es war unglaublich! Es
war Stereo! Es war die Freiheit! Es
war der Westen! Es waren die Stones!
Und wir waren mitten drin...
Im November 1969 wurden im
New Yorker Madison Square Garden
zwei Konzerte der Rolling
Stones mitgeschnitten, bei denen
sie ihr aktuelles Programm um
Rock’n’Roll-Klassiker wie „Little
Queenie“ ergänzten. Zum 40. Geburtstag
des Konzertes ist jetzt eine
luxuriöse Jubiläumsbox erschienen.
Sie umfasst das remasterte
Original sowie auf einer zweiten
CD fünf bisher unveröffentlichte
Live-Songs jener legendären Gigs.
Auf der dritten CD kommt das
damaligen Vorprogramm zum Zug:
B. B. King sowie Ike & Tina Turner.
Die vierte Scheibe ist eine
DVD mit einem Film, der die Performance
der fünf unveröffentlichten
Songs in 5.1-Sound enthält.
Diverse Szenen Backstage und
anderswo ergänzen den Streifen.
Alles in allem eine feine Sache,
endlich auch klanglich. Allein der
konvulsive Sieben-Minuten-Wahnsinn
von „Sympathy for the Devil“
tritt 99 Prozent aller je entstandenen
Liveaufnahmen in die Tonne.
„Get Yer Ya-Ya’s Out!“ war und
ist ein Meilenstein in der Geschichte
der Rockmusik.
Wirklich spannend wäre es jedoch
gewesen, wenn in der Box zusätzlich
ein gesamtes Stones-Konzert
dieser wilden Jahre präsentiert
worden wäre. Und zwar inklusive
der damals häufig herausgeschnittenen
Nummern in der richtigen
Reihenfolge. Wie dem auch sei, die
Jubiläumsausgabe ist ein Muss für
jeden eingefleischten Fan der
dienstältesten Rockband der Welt.
Allerdings müssen die Fans für die
Luxusausgabe auf Vinyl tief in die
Tasche greifen. Ab 99 Euro ist das
Teil zu haben. Preiswerter, dafür
aber nicht so großformatig, ist
dagegen die Jubiläumsausgabe auf
CD. Die bekommt man ab ca. 40
Euro. Fest steht, das Abhören des
digital neu aufbereiteten und
ergänzten Materials bringt so oder
so nichts als pure „Sätisfätschn“!