Kraftwerk werfen die Geldpresse an
Von Thomas Steierhoffer

Gefühlte vier Kilogramm
in der Hand, die äußerst
stabile und tiefrote Box
mit den vier stilisierten Kraftwerk-
Robotern auf dem Deckel.
Öffnet man diesen, findet sich
zunächst ein beeindruckendes 228
Seiten starkes Hardcover-Kunstbuch,
das Kraftwerks legendäre
Schaufensterpuppen an verschiedenen
Museen dieser Welt zeigt.
Dazwischen gibt es Screenshots
von den Konzertprojektionen zu
sehen. Unter anderem aus dem
„Museum of Modern Art“ in New
York, dem „Tate Modern“ in London,
der „Neuen Nationalgalerie“
in Berlin sowie dem Konzerthaus
„Akasaka Blitz“ in Tokio. Hier
und anderswo fand zwischen 2012
und 2016 die „3D-Tour“ der vier
Düsseldorfer Elektronikpioniere
von Kraftwerk statt. Unter dem
Buch findet sich ein in schwarzem
Schaumstoff gebettetes rotes Digipack
zum Herausnehmen. Es
lässt sich beidseitig aufklappen
und bietet in der Mitte links und
rechts vier eingelegte 3D-Blurays,
die sich mit leichtem Druck
herausnehmen lassen.
Disc 1 beinhaltet die ersten vier
Konzerte, welche alle live dargebotenen
Titel der Alben „Autobahn“,
„Radioaktivität“, „Trans
Europa Express“ und „Die
Mensch-Maschine“ umfassen. Die
zweite Disc setzt die Konzertpräsentationen
mit den Alben „Computerwelt“,
„Techno Pop“, „The
Mix“ und „Tour De France“ fort.
Die 3D-Präsentation der Konzerte
wurde dabei sehr raffiniert fürs
Heimkino gelöst: Im Vordergrund
befinden sich die Musiker von
Kraftwerk auf der Bühne, mal
von vorne, mal von der Seite.
Dahinter finden die 3D-Visualisierungen
statt, die manchmal im
Hintergrund verbleiben, manchmal
in einem gezoomten Vollbild gezeigt
werden. Gelegentlich kommt
es auch vor, dass die 3D-Visualisierungen
mit dem Bühnenauftritt
vermischt werden und entweder
in Farbe oder in schwarz/weiß
präsentiert werden. Das Publikum
ist dabei kaum wahrnehmbar.
„Vermutlich deshalb, weil ihm
die überaus gelungenen 3D-Präsentationen
die Sprache verschlagen
haben dürfte“, schreibt ein
leidenschaftlicher Kraftwerk-Fan
im Internet.
Der Ton liegt in drei verschiedenen
Formaten vor, die sich über das
Menü umschalten lassen, nämlich
in PCM Stereo 2.0, in Dolby Atmos
(5.1 kompatibel) und im 3D
Headphone Surround Sound. Der
Klang ist kristallklar mit wuchtigen
Bässen und Effekten. Das zum
technischen Geschehen.
Nun zu den musikalischen und
künstlerischen Inhalten. Als Kraftwerk-
Fan der ersten Stunde fällt
es schwer, die ihrer Zeit Anfang
der 1970er Jahre weit vorauseilenden
Klassiker wie „Radioaktivität“,
„Trans Europa Express“
oder „Autobahn“ in den neuen
Versionen zu hören. Peinlich wird
es besonders, wenn aus der Originalversion
von „Radioaktivität
wenn’s um unsere Zukunft geht“
heute „Stoppt Radioaktivität!“
wird, gepaart mit einem Aufschrei
Richtung Fukushima in japanischer
Sprache mit starkem deutschen
Akzent. Überhaupt muss
die Frage erlaubt sein, was Mastermind
Ralf Hütter (einziges Mitglied
der Kraftwerk-Urbesetzung)
und seine Kollegen dazu getrieben
hat, die musikalisch und künstlerisch
perfekten Originalversionen
„in unsere Zeit herüberzuholen“?
Mag der Sound auch noch so brillant
sein, mit den Originalversionen
hat das Material nichts, aber
auch gar nichts mehr zu tun. Der
bei Kraftwerk so geschätzte Minimalismus
ist verlorengegangen.
Vieles wird jetzt mit Synthesizerkaskaden
überwuchert. Hier
noch ein Schnörkel, da noch ein
Schleifchen elektronischer Töne.
Es mag sein, dass die jungen Liebhaber
elektronischer Musik mit
dem aus Film und Werbung gewohnten
Sound ihrer Generation
an Kunstwerke herangeführt werden
sollen, die Jahrzehnte vor
ihrer Geburt entstanden sind. Den
Kunstwerken selbst tut das jedoch
nicht wirklich gut.
Die Vermutung liegt nahe, dass
Kraftwerk mit „3D-Katalog“ mehr
oder weniger die Gelddruckmaschine
angeworfen haben. Das
Material liegt in verschiedenen
Formaten von Vinyl über CD,
DVD bis hin zu den beschriebenen
Blu-rays vor. Und die Preise haben
es sehr satt in sich. So kostet etwa
die 9-LP-Box „3D Der Katalog“
(Deutsche Version) ab 136,99
Euro!
Wie dem auch sei, wir halten
„3D-Katalog“ in allen verfügbaren
Formaten für keine gute Investition.
Wer sich mit Kraftwerk beschäftigen
möchte oder bereits
ein Liebhaber ihrer für viele Stile
richtungsweisenden Musik ist,
sollte auf die neu aufgelegten Originalalben
auf Vinyl oder CD zurückgreifen.
Genau hier nämlich
wurde der revolutionäre Kraftwerk-
Sound entstaubt und „in unsere
Zeit herübergeholt“. Und das,
ohne die Originale zu übertünchen
oder neu zu interpretieren.