"Oscar" für ein polnisches Meisterwerk - In Deutschland sahen „Ida“ nur 20.000 Zuschauer
Von Thomas Steierhoffer

Polen 1962. Die 18-jährige
Novizin Anna (Agata Trzebuchowska)
bereitet sich
auf ihre Gelübde vor. Doch bevor
sie diese ablegen darf, stellt die
Äbtissin das als Waise aufgewachsene
Mädchen vor eine überraschende
Aufgabe: Sie soll ihre
letzte verbleibende Verwandte
treffen. Anna fährt in die Stadt zu
Wanda (Agata Kulesza), der
Schwester ihrer Mutter, der sie
noch nie zuvor begegnet ist. Das
Aufeinandertreffen des behütet
aufgewachsenen katholischen
Mädchens und der mondänen wie
parteitreuen Richterin wird das
Leben beider Frauen verändern.
In eindrücklichen wie reduzierenden
Schwarz-Weiß-Bildern
gleichermaßen, still und intensiv,
erzählt der preisgekrönte Regisseur
Pawel Pawlikowski von zwei
Frauen, denen das Vergessen nicht
gelingt.
„Ida“ ist für den polnischstämmigen
Filmemacher auch eine
Beschäftigung mit seinem Geburtsland
Polen und den eigenen
Wurzeln. Seine poetische wie
klare filmische Annäherung an
die bis heute mit Schweigen belegte
Gemengelage aus Antisemitismus,
Katholizismus und
Kommunismus stellt eine zu Recht
ausgezeichnete Perle europäischen
Filmschaffens dar. Für viele Diskussionen
sorgte der Film in Polen
selbst. Die „Polnische Liga gegen
Verleumdung“ sammelte 40.000
Unterschriften gegen den Film.
Mit der Begründung, in dem Streifen
werde die deutsche Besatzung
Polens vollkommen ausgeblendet
und schlussendlich Polen allein
für den Holocaust verantwortlich
gemacht. Vom reaktionären Sender
„Radio Maria“, der für seine antisemitische
Hetze bekannt und
berüchtigt ist, wurde das Kunstwerk
daraufhin verrissen und
grundsätzlich abgelehnt.
„Ida“ wurde in
schwarz-weiß gedreht
Anna schaut durch das Autofenster
eines alten „Wartburgs“ in die
Welt, als ob sie sie zum ersten
Mal sähe. Dass die dunklen, blanken
Augen mit den hellen Wimpern
so sehr aus dem Bild herausstechen,
liegt am Rahmen:
Anna ist eine Novizin. Sie trägt
den Schleier eines Habits, kein
Haar stört also die Wirkung ihres
Gesichts, auch keine Farbe - „Ida“
wurde in schwarz-weiß gedreht.
„Manche Filme sind für die Oscars
gemacht, dieser hier nicht", sagte
Regisseur Pawel Pawlikowski bei
einem Interview in Riga, wo ihm
fünf europäische Filmpreise verliehen
wurden.
Die Aussage mit den Oscars wird
Pawlikowski (57) jetzt wohl noch
einmal im Kopf bewegen müssen.
Sein Film erhielt nämlich bei der
diesjährigen Preisverleihung in
Los Angeles den berühmtesten
Filmpreis der Welt - als bester
fremdsprachiger Film.
Seit seinem Debüt auf dem Filmfest
London 2013 gewann „Ida“
über 50 Preise. Er wurde von
Filmkritikern weltweit in die Bestenlisten
2014 gewählt. In Frankreich
kam er auf 600.000 Zuschauer,
in den USA wurden 3,7
Millionen US-Dollar umgesetzt.
In Deutschland ging der Film dagegen
unter: Beim Kinostart im
April 2014 erreichte „Ida“ nur
knapp 20.000 Zuschauer. Vielleicht
ist jedoch mit dem Oscar nun die
Zeit gekommen, dass auch hier
ein Film entdeckt wird, in dem
auf beiläufige Weise alles anders
gemacht wurde.
Er halte nicht viel von Drehbüchern
an sich, sagt Pawlikowski.
Eigentlich seien sie ohnehin nur
dafür da, die Geldgeber zu beruhigen.
Für ihn müsse Kino auch
ohne Dialoge funktionieren. „Die
Auswahl der Schauspieler, die
Umgebung, die Akustik - das erzählt
viel mehr. Die Dialoge können
höchstens Zusatzinfos liefern,
Charakterzüge festigen, Vergangenheiten
klären. Handlung dürfen
sie nicht transportieren.“
Und so ist „Ida“, trotz eines fantastischen,
jazzorientierten Soundtracks
(John Coltrane), ein stiller,
aber nicht ruhiger Film. Die Geschichte,
die von den Kameramännern
Lukasz Zal und Ryszard
Lenczewski in nahezu quadratischen
Bildern eingefangen wurde,
handelt von Identität, Vergebung,
Schuld, Antisemitismus. Die Novizin
Anna lernt kurz vor ihrem
Gelübde ihre einzige lebende Verwandte
kennen, die kettenrauchende,
Schnaps trinkende und
das Leben in vollen Zügen genießende
Tante Wanda. Ihre und
somit auch Annas Familie sei jüdisch,
erzählt die als „Rote Wanda“
bekannte Richterin. Ihren Spitznamen
bekam sie als gnadenlose
Jägerin von politischen Gegnern
im stalinistischen Polen. Annas
richtiger Name, erklärt Wanda ihrer
fassungslosen Nichte, laute
Ida. Sie sie als Kleinkind von den
Mördern ihrer Eltern in ein Kloster
gegeben worden.
Um die äußere Reise zum Grab
der Eltern und die innere Reise
zu Idas Identität haben Pawlikowski
und seine Kameramänner
vorsichtig und leichthändig Bilder
und Szenen arrangiert, die formal
an die Nouvelle Vague erinnern,
besonders in der Darstellung einer
zarten Liebesgeschichte. Er habe
als Referenz an „Die Geschichte
der Nana S.“ von Godard gedacht,
so Pawlikowski. Durch das Format
1:1.33 sind die Bildinhalte enorm
konzentriert. Mit einfachen und
für moderne Zuschauer eher ungewohnten
Mitteln entsteht ein
großartiges Meisterwerk.
Jetzt auch auf DVD