Pappi fährt mal kurz nach Auschwitz - Postdokumentarisches Porträt zu Heinrich Himmler
Von Thomas Steierhoffer

In den Pausen, die ihm zwischen
den Inspektionen der Truppe
im Osten und den Abstechern
in die Vernichtungslager bleiben,
schreibt Reichsführer SS Heinrich
Himmler zahlreiche Briefe an seine
Frau Margarete und seine Tochter
Gudrun. Manchmal unterzeichnet
der liebevolle Familienvater, der
„Tag und Nacht arbeitet“, mit „Heini“,
manchmal mit „Euer Vati“,
dann wieder mit „Pappi“. Er schickt
in den „schweren Jahren“ Pakete
mit Schokolade, Obst, Goldschmuck,
Seiden- und Wollstoffen
an seine Familie, die bald um den
Ziehsohn Gerhard erweitert wird,
weil Himmlers Frau keine weiteren
eigenen Kinder bekommen kann.
Der Reichsführer SS leidet unter
dieser Tatsache und hält Ausschau
nach einer Geliebten, die ihm in
den nächsten Jahren zwei weitere
Kinder schenkt. Die Beziehung
bleibt bis 1940 geheim, dann erfährt
seine Ehefrau davon. Sie reagiert
verbittert, doch Himmler schreibt
auch an Hedwig Potthast Briefe
und schickt Packete. Meistens sind
diese Schreiben mit „Dein Heini“
unterzeichnet.
In ihrem Film „Der Anständige“
nähert sich die israelische Filmemacherin
Vanessa Lapa einem
Mann, der zu den mächtigsten und
einflussreichsten Männern des Nazi-
Regimes gehörte. Nur zwei Tage
nachdem Himmler von britischen
Soldaten in Niedersachsen gefangengenommen
wurde, nahm er sich
das Leben. Er biss auf eine Zyankalikapsel.
Zuvor hatte er seine
Sekretärin Erika Lorenz angewiesen,
alle persönlichen Dokumente,
die er in seinem privaten Safe in
seiner Villa am Tegernsee aufbewahrte,
zu vernichten. Lorenz kam
jedoch zu spät. Amerikanische Soldaten
hatten das Haus bereits besetzt
und die Dokumente mitgenommen.
Jetzt verlor sich die Spur von
Himmlers Briefen, Fotos und Tagebüchern.
Mehr als 60 Jahre später
gelangte Himmlers private „Sammlung“
in den Besitz einer israelischen
Filmproduktionsfirma. Diese
Dokumente bildeten schließlich
die Basis für „Der Anständige“.
Von seiner Taufe bis zu seinem
Suizid zeigt der Film chronologisch
das Leben und die Karriere eines
Mannes, der ebenso wie Eichmann
kein Monster im eigentlichen Sinne
war. Vielmehr scheint auch auf
Himmler die Charakterisierung
„Die Banalität des Bösen“, die
Hannah Arendt einst prägte, zuzutreffen.
Der Großteil der Filmdialoge
basiert auf sorgfältig ausgewählten
Exzerpten aus den Briefen
Himmlers an seine Frau, seine
Tochter und seine Geliebte sowie
aus deren Antworten. Teilweise ist
die unkommentierte Authentizität
nahezu erschütternd. Etwa, wenn
die damals 13-jährige Tochter Gudrun
ihrem „Pappi“ von einem „Ausflug“
ins Konzentrationslager Dachau
berichtet, der ihr „sehr gut gefallen“
habe, besonders die dortige
„Ordung“, die „Gärtnerei“ und die
„Bibliothek“. Hinterher hätte sie
mit allen Tanten und anderen Familienmitgliedern
ein Picknick veranstaltet,
auf dem sie „richtig viel
gegessen“ habe.
Himmler selbst beschriebt nie, welchen
Geschäften er hinter der Front
im Osten täglich nachgeht. Jedoch
berichtet er von „sehr viel Arbeit“,
die mit „Anstand“ zum Wohle
Deutschlands gemacht werden müsse.
Er schreibt, er fahre dieser Tage
mal kurz nach Auschwitz und Lublin,
und immer wieder teilt er seinen
Lieben mit, dass er „sehr gut
schlafen“ könne, jedoch mitunter
Magen-Darm-Probleme habe.
„Man muss im Leben immer anständig
und tapfer sein und gütig“,
hatte Himmler seiner Tochter ins
Poesiealbum geschrieben. Er war
mit sich selbst im Reinen und offensichtlich
zutiefst davon überzeugt,
seinem Führer und dem deutschen
Volk ehrenhaft zu dienen.
151 Quellen aus 53 Archiven in
weltweit 13 Ländern führt Filmemacherin
Vanessa Lapa mit dem
Nachlass Himmlers zusammen.
Dabei sind auch bislang unveröffentlichte
Szenen aus 8mm, 9mm-
Pathé sowie 16mm-Filmmaterial
zu sehen, die durchweg nachvertont
wurden. So wirkt es unheimlich
und mitunter unerträglich, wenn
beispielsweise bei Massenhinrichtungen
das Durchladen der Karabiner
zu hören ist oder wenn beim
Verladen jüdischer Frauen, Kinder
und Greise die Türen der Viehwaggons
in ihre Schlösser fallen.
„Der Anständige“ ist erschütterndes
postdokumentarisches Kino.