Vier kleine Gibb-Gebrüder machten einst Musik
Von Matthias Horwath

Zwanzig Westmark in der Tasche,
aber keinen Pass in
der Hand. Jedenfalls keinen,
der etwas gilt. Die Elbe floss frech
und frei nach Hamburg an Dresdens
Wiesen vorbei und keiner schoss
an ihrem Grenzübertritt nach Westen
auf sie. Warum? Und warum
sollte dann ich erschossen werden,
nur weil auch ich frei fließen wollte?
Der Mensch besteht doch zu siebzig
Prozent aus Wasser! Wasser, das
eben auch mal Musik hören will!
Ein Wassersack unter siebzehn Millionen
unerlösten Ost-Säcken? Wir
waren eben nicht alle „Hundertfünfzigprozentige“.
So nannten wir
die Scharfen unter den Genossen
samt ihren Lakaien, die uns allesamt
strikt nicht nur an der freien Ausgabe
unseres Geldes hinderten.
Also hochgestiegen die berühmten
Stufen zum Intershop des Dresdner
Hauptbahnhofs. Die ganze zum Intershop
hinaufführende Baulichkeit
im Bahnhof hatte etwas vom Pergamonaltar.
Ein Treppenhaus zum
Himmel? Der Laden oben mit der
goldnen Messingglastür zum Konsumtempel
West hatte keine Selbstschussanlage.
Er zog uns Eingeborene
mit diversen Zaubergerüchen
von selbst in seinen warnenden
Bann. Der menschliche Ostleib erstarrte
erst einmal vor dem Shop
in Ehrfurcht. Er entledigte sich des
gedemütigten wie angelernten Seelenreflexes
noch immer nicht: „Hier
darf ich nicht hinein“, brauchte gar
nicht als Hundeschild an der Tür
kleben. Wir Aluchip-Sozialisierten
wussten das intuitiv auch ohne
Warnschild. Aber genau das war
falsch: die DDR-Funktionäre wollten
uns alles Westgeld aus der Tasche
ziehen, durften es uns aber
nicht eingestehen. Dafür verkauften
sie uns nicht nur gegen harte DMark
die Platten, die sonst unseren
Omas, aus dem Westen kommend,
von Hundebeamten an der Grenze
wieder abgeknöpft wurden! Nein!
Sie stellten sie größtenteils auch
noch selber her, mit Hochglanzcover,
zwar im Westen gedruckt, die
Pressung der LP mit Originallabel
und „Made in Germany“ aber aus
der DDR-Produktion kommend!
Einzig der Hinweis auf dem Label
für die Verwertungsgesellschaft
„Gema“ wurde durch das ostdeutsche
Pendant „AWA“ ersetzt.
Der massive Sog der begehrten
Ware überwand für uns nun schlussendlich
alle angelernten Ängste!
Am Altarschrein der Intershop-Ladentheke
angekommen, gab es neben
viel Plunder sie, die fremden
und doch vertrauten Objekte der
Begierde von POLYDOR, ARIOLA
oder CBS. Doch die Label
allein sagten gar nichts, weil sie
alle großartige Rockmusik vertickten
und zugleich seichte Unterhaltungsmusik
feilboten. Und wir ahnten
es, es war wie eine Bestätigung
des Schicksals: die verhassten
Schlagerlaffen des Westens bemächtigten
sich des Intershopangebots
überproportional: Udo Jürgens,
Bata Illic, Costa Cordalis,
Vicky Leandros und wie diese gegrillten
Puderdosen auch hießen!
Die zwanzig Mäuse wären nun
beinahe in der Tasche zurückgeblieben,
wenn sich nicht doch noch
etwas blinkend vor die Augen meiner
mich begleitenden Schwester
schob: „BEE GEES 20 GREATEST
HITS“ - Polydor 2479 208 S 1/2
mit tief goldenem Cover und der
posierenden Bandspitze darauf abgelichtet.
Nun ja, die zwanzig DM
rollten wohl oder übel über den
Tisch des heiligen Schreines, ein
bisschen Tand fiel noch ab für den
Rest des Geldes. Jetzt schnell wieder
hinab den Pergamonaltar, rein
in die Bahn, heim und die LP rauf
auf den Teller des Plattenspielers...
Der Sound der Hochglanzplatte
verschlickte uns zwei Halbkindern
mit seiner süffisanten Ambiva -
lenz das G e h ö r : Lamplight, Saved By
The Bell, Massachusetts, World, Word, I.O.
I.O., To Love Somebody. (Das Saturday-
Night-Fever-Piepsen der
Band hingegen war noch nicht erfunden.)
Großartige, orchestrale
und barocke Beatmusik. Aber eben
kein richtiger Rock! Doch die stolzen
Posen der sizilianisch anmutenden
Gebrüder aus British Australia
hatten einen religiösen Nimbus
Sie warfen einen glänzenden
Stolz ab, den wir höchstens als
fades Klischee vom Maiaufmarsch
der Kommunisten her kannten, der
aber bei uns gegen diese beeindruckende
Aura der Freiheit der Weltenmeere
definitiv nicht die geringste
Chance hatte! Die Genossen
der Macht wussten das intuitiv und
verboten sicherheitshalber sowieso
fast alles Freiheitsverdächtige präventiv.
Die Verkäufe von Westkultur
im Intershop waren daher kein Signal
der Freiheit, sondern einzig ein
Zugeständnis des Geldes und somit
Boten einer zynisch anwachsenden
Doppelmoral der hiesigen Machthaber.
Die Posen der Beatmusik
und ihr multimediales Styling implizierten
ein unbezwingbar positives
Gefühl für das Individuum.
Das war im stalinistischen Kontext
Ostdeutschlands äußerst unerwünscht...
Was wir damals noch
nicht wussten: auch in der westlichen
Gesellschaft des geteilten
Landes war dieses Gefühl keinesfalls
eine Selbstverständlichkeit!
Es musste auch immer wieder von
den diversen Elternfiguren abgetrotzt
werden. Wenn die geteilten
Staatsideologien auch weit auseinanderfielen,
waren wir uns in der Gesellschaft der Deutschen
doch wesentlich näher als wir es ahnten.
Die goldene Platte wanderte nun im
Kreislauf als ewig verborgte Kostbarkeit
von einem Typ zum anderen
und wieder zurück. Frau Joswig,
eine schwer gedemütigte Schönheit,
die so sexy aussah wie die Paula
aus dem Film „Die Legende von
Paul und Paula“, musste ihre Existenz
im Apparat meiner Schule als
Musiklehrerin fristen. Ein undankbares
Fach, das niemand ernst
nahm. Das Musikfach selbst trat die Muse mit den eigenen ideologischen
Phrasen. Bis nun eines Tages
die Schönheit uns gegen alle
Regeln der verminten Bildungsmaschine
erlaubte, unsere jeweilige
Lieblingsplatte in die Schule mitzubringen.
Ich nahm die „Bee
Gees“ mit. Auch wenn sie definitiv
nicht meine Lieblingsplatte war,
kam sie doch bei den Mädchen
gut an. Jedoch eine quasi Westplatte
in Stalins alter Schule, ging das,
wo doch gegen die „westliche Unkultur“
allgemein und gegen die
Beatmusik ganz besonders perfide
gehetzt wurde und wo man sogar
das Konfiszieren der Kostbarkeit
hätte befürchten müssen? Die Aura
der Bee Gees-Musik überwand hier
das Gesetz der Angst. „To Love
Somebody“ (Um jemanden zu lieben)
an Stelle von „Klassenkampf“.
Der Musikunterricht fand immer
in der Aula der Schule statt, sozusagen
im Elysium der Macht. Hier,
wo nun die Jahre zuvor vom alten
Pauker Erhardt Klemm am Flügel
nicht Mozart, nicht Miles und nicht
Mussorgsky zelebriert wurde, sondern
immer nur internationalistische
Kampflieder der Kommunisten mit
ihren ideologischen Phrasen abgedroschen
worden waren, am selben
Platz fand nun die kleine Revolution
statt; die mieseste Krücke von
Schulplattenspieler spie einen
Sound aus (nur scheinbar unpolitisch),
der nicht nur einfach vom
Selbstbewusstsein erzählte, sondern
von der Freiheit, auf die wir noch
von unserer wichtigen Lebenszeit
zwei weiter verlorene Jahrzehnte
hoffen mussten! Doch das Leuchten
in den Gesichtern meiner Mitschülerinnen
und Mitschüler erhellte
für einen Moment die finstere Aula
der Schule. Die Posen der Bee
Gees auf dem Cover, die schönen
Männer mit den bleckenden Zähnen
und dem wallenden Haar, ihr letztlich
bei aller Schwülstigkeit tief in
der schwarzen Musik von Motown/
Detroit verwurzelter Sound
brachte uns für einen Moment an
einer stalinistischen Schule das
Frühlingsgezwitscher der Freiheit.
Im Inneren von uns Halb-Kindern
hatte sie schon lange ein Nest dafür
im Bau. Einige Zeit später tauschte
ich die Bee Gees Platte gegen eine
psychedelische Platte aus Polen.
Keiner meiner Freunde verstand,
warum ich diese tolle LP nun gegen
eine schnöde Ostplatte wechselte:
das war nun meine Lust an der
Freiheit, die nur ich für mich selbst
zu verantworten hatte. Das Zwitschern
der eigenen Freiheit war
jedoch in mir bereits weithin unüberhörbar.