Weltniveau aus dem VEB: „Solarius“
Von Thomas Steierhoffer

Seit vielen Jahren beschäftige
ich mich mit Jazz. Besondere
Leidenschaft findet dabei
der osteuropäische Jazz, vorrangig
der aus Polen. Warum, so
habe ich mich oft gefragt, ist diese
Variante der aus Amerika stammenden
Musik so besonders, von
so hohem und ganz eigenem Niveau?
Und, warum kann der Jazz
aus der DDR dagegen nicht mithalten?
Die Antwort fand sich
schließlich in der Tatsache, dass
die polnischen Musiker viele internationale
Projekte begleiten
und gar initiieren durften. Von jeher
gibt es in den USA viele ausgewanderte
Polen, etwa in Chicago.
Dank der im kommunistischen
Polen erlaubten Reisemöglichkeiten
in den Westen konnte
künstlerischer und musikalischer
Austausch geschehen und gepflegt
werden. Es war quasi ein Geben
und Nehmen auf vielen Ebenen
gleichermaßen. Das Ergebnis ist
beeindruckend: Polish Jazz gilt
heute überall auf der Welt als inspiriert
und richtungsgebend.
Anders sah es in der DDR aus.
Hier standen Abschottung und
Restriktioin auf der Tagesordnung.
Künstler wurden gegängelt, ihre
Werke verschwanden nicht selten
gänzlich von der Bildfläche. Jedoch
gibt es einige Perlen, die
erst nach Wende wieder gehoben
werden konnten und die wirkliches
Weltniveau zeigen, das jedoch
zuvor auf dem Index stand. So
auch das beim VEB AMIGA bereits
1964 produzierte Album „Solarius“
des Rolf Kühn Quintetts.
Der jüngere Bruder
war die erste Wahl
Der in Westdeutschland lebende
Klarinettist Rolf Kühn (Jg. 1929)
wurde gebeten, für eine Ost-West-
AMIGA-Produktion eine Band
zusammenzustellen. Die erste
Wahl war sein 15 Jahre jüngerer,
damals in Leipzig ansässiger Bruder
Joachim, der schon als 18-
jähriger Pianist zu den Visionären
der DDR-Jazzszene zählte, weshalb
SED-Kulturpolitiker seine
Musik als dekadent und imperialistisch
diffamierten. Die im November
1964 im AMIGA-Studio
mit Michal Urbaniak, Klaus Koch
und Czeslaw Bartkowski eingespielte
LP „Solarius“ markiert den
Aufbruch des europäischen Jazz
und ist seit Langem begehrtes
Sammlerobjekt.
Im Januar 1947, entstand mit dem
„Skyliner“ des RBTOrchesters
die erste Jazz-Aufnahme für das
VEB-Label Amiga, dem Label
für Unterhaltungsmusik „Made
in GDR“. Trotz kulturpolitischer
Querelen entwickelte sich in der
DDR - quasi als von künstlerischer
Freiheit geprägter Gegenentwurf
zu den gesellschaftlichen Verhältnissen
einer Diktatur - seit den
60er Jahren eine vielseitige Jazzszene.
Neben Übernahmen historischer
und internationaler Produktionen
wurde ab ca. Mitte der
70er Jahre auch der zeitgenössische
„DDR-Jazz“ zu großen Teilen
auf AMIGA-Schallplatten dokumentiert.
Der umfangreiche Katalog
umfasst Eigenproduktionen
aus dem AMIGA-Studio ebenso
wie Konzertmitschnitte oder Studioproduktionen,
die der „Rundfunk
der DDR“ - der seinerzeit
aktivste Musik-Produzent des Landes
- für Veröffentlichungen zur
Verfügung stellte. In drei Staffeln
werden nun zunächst 15 AMIGA-
Jazz-Produktionen auf CD
wiederveröffentlicht - technisch
überarbeitet und in Teilen ergänzt
um aktuelle Linernotes. Sie repräsentieren
nicht nur aus historischer
Perspektive wichtige Aufnahmen
aus dem AMIGA-Katalog.
Diese Produktionen dokumentieren
streiflichtartig die Vielfalt,
handwerkliche Professionalität
und Eigenständigkeit der DDRJazzszene.
Die meisten Musiker
sind noch aktiv, viele international
erfolgreich. Einige haben sich von
der Jazzszene verabschiedet. In
jedem Fall bietet diese CD-Reihe
die Chance der Entdeckung von
Marksteinen des DDR-Jazz mit
zeitloser Bedeutsamkeit.
„Solarius“-Besetzung:
Bass – Klaus Koch
Clarinet – Rolf Kühn
Drums – Czeslaw Bartkowski
Piano – Joachim Kühn
Soprano Saxophone,
Tenor Saxophone – Michael Urbaniak
Wenn man nach deutschen Jazzmusikern
fragt, die weltweit mit
ihrem eigenen Stil erfolgreich
wurden, dann ist da vor allem
Rolf Kühn zu nennen. 1929 in
Köln geboren, wurde er nach dem
Zweiten Weltkrieg im Leipziger
Rundfunktanzorchester erstmals
solistisch tätig. War er zuerst noch
dem Swing in der Tradition von
Artie Shaw verpflichtet, gelang
es ihm im Laufe der 50er Jahre
in den USA und in Deutschland
mit seinem eigenen Stil die Neuentwicklungen
des Jazz aufzunehmen
und fortzuschreiben. So
wurde er von dem großen Impressario
John Hammond als der
erste wirklich große Klarinettist
seit Benny Goodman gewürdigt.
1964 war Kühn erstmals seit fünfzehn
Jahren mit seinem Quintett
wieder in den Berliner AMIGAStudios
für die Aufnahme seiner
LP „Solarius“. Zu seiner Gruppe
gehörten die beiden polnischen
Musiker Michael Urbaniak (ss,
as) und Czeslaw Bartkowski (dr)
sowie Bassist Klaus Koch. Erstmals
stand außerdem Kühns jüngerer
Bruder Joachim als Pianist
mit im Studio.
Entstanden ist ein Album, das
sich in dem Titel „Mountain
Jump“ den Swing-Traditionen
verpflichtet zeigt. Ansonsten zeigen
die anderen fünf Stücke von
„Solarius“, wie weit etwa Einflüsse
aus der arabischen und vorderasiatischen
Musik den Jazz
der Zeit in rhythmisches und melodisches
Neuland gebracht haben.
Melodie und Rhythmus lösen sich
in freiere Strukturen auf, ohne
jedoch den „Swing“ als Grundkonstante
des Jazz zu negieren.
Ebenso finden sich Anleihen an
Blues und Funk etwa in „Minor
Impressions“ oder an europäische
Volksmusik des Mittelalters („Sie
gleicht wohl einem Rosenstock“).
Solarius ist eine der bedeutendsten
Jazz-Veröffentlichungen bei AMIGA,
schreibt das Magazin Wasser
Prawda aus Polen:
Wie klingt volkseigener
Jazz eigentlich?
„Jetzt, da 15 längst vergriffene
Improvisationsproduktionen des
DDR-Unterhaltungsmusiklabels
AMIGA wiederveröffentlicht werden,
kann man sich fragen: Wie
klingt volkseigener Jazz? Die Antwort:
offen, vielfältig und erstaunlich
kaputt. Die Bandbreite
reicht vom Krachmacher-Freejazz
von Ulrich Gumperts Gruppe Synopsis
bis hin zum mit allen Duftwassern
der 80er-Jahre-Produktionskunst
gewaschenen Pop-Jazz
der Sängerin Pascal von Wroblewsky.
Die Aufnahme des Rolf-
Kühn-Quintetts von 1964 ist nicht
nur wegen ihres coltranesken
Charmes und der Leistung des
Bruderpaars Rolf (BRD) und Joachim
(DDR) Kühn interessant:
Zum ersten Mal darf man jetzt
auch den originalen Plattentext
lesen. Wenn man sieht, was für
Petitessen aus politischen Gründen
gestrichen werden mussten, wundert
man sich, wie in diesem Klima
Jazz mit Weltniveau entstehen
konnte...“