Wenn Musik Jahrzehnte reift - Mit „Another Self Portrait“ legt Bob Dylan Bootleg Series Vol. 10 vor
Von Thomas Steierhoffer

Dylan hatte gerade die Folgen
seines Motorradunfalls kuriert
und war nach Jerusalem
gereist. Vor der „Klagemauer“
ließ er sich mit Kippa auf dem
Kopf ablichten. Seine Plattenfirma
beauftragte er, den Fans auf der
ganzen Welt mitzuteilen, dass er
auf der Suche nach seinen Wurzeln
sei und sich aus dem Musikgeschäft
zurückziehen wolle. Und dann -
1970 - das: „Self Portrait“ sollte
eine seiner am meisten missverstandenen
Platten werden. Die Fans
zeigten sich irritiert, manche gar
entsetzt ob der angeblich zugeschwurbelten
Tracks, die allesamt
mit reichlich Overdubs versehen
waren. Manche klingen wie Elvis
auf Hawaii, manche wie Paul Simon,
andere wiederum wie christliche
Erweckungsmusik amerikanischer
Sekten. Ein Querschnitt
durch den amerikanischen Folk
war wie aus heiterem Himmel auf
die Erde gefallen, die wenigsten
Freunde der Musik Dylans waren
auch nur ansatzweise bereit, sich
mit dem Material zu beschäftigen.
„What is this shit?“ – Mit dieser
frechen Frage begann 1970 die Rezension
des Kritikers Greil Marcus
im „Rolling Stone“. Das Doppelalbum
„Self Portrait“ schockierte
manche, die von Dylan auf dem
Höhepunkt des Vietnamkrieges ein
weiteres rebellisches Manifest erwarteten
und stattdessen einen zusammengekleisterten,
geradezu
hymnischen Tribut an die amerikanische
Musiktradition zu hören
bekamen. Wollte Dylan gar die
mitunter groteske Verehrung seiner
Fans dämpfen? Das behauptete er
viel später in seinen „Chronicles“
und schien damit Marcus nachträglich
recht zu geben. Jetzt aber,
mit „Another Self Portrait“, erweist
sich auch diese Legende als Selbststilisierung
– und es ist ironischerweise
Greil Marcus selbst, der die
korrigierenden „liner notes“ beitragen
darf. Der Autor des üppigen
Essays im Booklet zur Doppel-CD
nimmt seine Kritik und seine böse
Frage grundsätzlich zurück, ja entschuldigt
sich für seine jugendliche
Eiferei vor Jahrzehnten. Was Dylan
bei diesen Sessions wirklich im
Sinn hatte, in freier und frischer
Interaktion mit dem brillanten Gitarristen
David Bromberg und dem
wunderbaren Keyboarder Al Kooper,
das klang laut Kooper zunächst
wirklich wie eine systematische
Wiederannäherung an die
Folk-Vergangenheit. Was müssen
die Musiker gelacht haben, damals
im Studio? Die schönste der nun
wieder entdeckten Aufnahmen ist
eine subtile Version von „Pretty
Saro“, einer englischen Ballade
aus dem 18. Jahrhundert, in der
sich Dylans Stimme wieder einmal
als feines und kontrolliertes Instrument
bewährt. Das ist eine gute
Gelegenheit, ein paar gängige Mythen
und Klischees der Dylan-Rezeption
zu hinterfragen. Der Mann
kann nicht singen? Wer „Pretty
Saro“ hört, weiss es besser. „Self
Portrait“ und „New Morning“ war
seine schlimmste Phase? In dieser
restaurierten Form, bei der allein
die Sessions und damit quasi ihr
Rohmaterial gezeigt werden, frei
von „Luschibas“ und Overdubs,
erweist es sich geradezu als ahnungsvolle
Vorwegnahme des heute
so angesagten „Americana“-Trends.
Damit wird „Another Self Portrait“
zur perfekten Ergänzung seines Alterswerks.
Wir brauchen „Bootleg
Series Vol. 10“, denn es stellt sich
heraus, dass diese neueste offizielle
Bootleg-Edition zu den unerlässlichen
gehört, voll von neu entdeckten
Perlen aus dem Folk-Songbuch,
aber auch gut gewählten Cover-
Versionen und ersten Versionen
von Dylan-Stücken, die später auf
„New Morning“ auftauchten („Went
to See the Gypsy“). Das Album ist
das Best-of der Jahre 1969–71.
Jetzt ist der Weg frei für das bereits
angekündigte „Volume 11“, mit
den unveröffentlichten Aufnahmen
aus der großen Zeit von „Blood
On The Tracks“. Mitunter muss
Musik reifen wie guter Wein.
Manchmal braucht es gar Jahrzehnte,
um sie richtig zu verstehen
und genießen zu können. Hier erscheint
sie ungeschminkt und nackt.