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Wunderlich fährt nach Norden

Von Olaf S. Ossmann



Ich will nicht viel über die Autorin

Marion Brasch sagen, dass

können sie alles gut ausgebreitet

im Internet nachlesen. Vielleicht

kennen einige Leser ja auch ihre

Stimme von Radio 1, die Älteren

unter uns vielleicht sogar noch von

Radio DT 64. Am Ende wird jedem

Leser klar sein, dass wieder viel

von der Autorin selbst und ihrer

(und meiner) Generation im Buch

gelandet ist

Nun kommt sie also mit einem

(zweiten) Roman, geschrieben in

hemdärmeliger Umgangssprache,

und beschreibt uns einen Protagonisten,

wie wir ihn sicher alle kennen.

Die Einen eher aus der Ferne,

die anderen dann doch als einen

Teil von sich selbst. „Wunderlich“

hat so ziemlich alles verloren, was

ihm wichtig schien oder wichtig

scheinen sollte. Als sich nun auch

noch seine Freundin kurz und bündig

von ihm trennt, scheint sich

mit jeder Zuversicht auch noch

sein Verstand zu verabschieden.

Sein Smartphone übernimmt die

Wegweisung. „Anonym“ kommentiert

ab sofort sämtliche Handlungen

und Erlebnisse per SMS

und redet ihm ins Gewissen. Und

so gerät seine Flucht aus seinem

Leben zur Reise in sein Inneres.

Die Reise in den Norden endet am

nächsten Bahnhof und die Typen,

denen er begegnet, sind gerade diejenigen,

die so geworden sind, wie

ihn seine Mutter nie haben wollte:

Gescheiterte Existenzen. Durch

die absurde Gestaltung der Handlung

gelingt es Marion Brasch, uns

glaubhaft eine Tramperreise nacherleben

zu lassen, die stark an

eigene Erlebnisse aus den frühen

80er Jahren erinnert, aber als Umgebung

die Landschaften (Berlin

und Mecklenburg) der Nachwendezeit

abbildet. Durch diese Mischung

und Einwebung weiterer

surrealer Elemente dringen wir

immer weiter in das Innere des

„Wunderlich“ vor und dieser gewinnt

mit jeder neuen Verletzung

die Fähigkeit zur eigenen Entscheidung

zurück. Zur zentralen Frage

wird die Frage nach der eigenen

Verletzlichkeit, aber auch die nach

der Verletzlichkeit der Menschen

um uns herum, die Frage nach unserer

Empathie. Darf ich den

Schmerz ausschalten, auch um den

Preis, dass ich vergesse, warum

ich verletzt wurde? Inwieweit erfordert

das Leid anderer unser Handeln

und nicht nur der besserwisserischen

Kommentierung? "Glück

ist nur echt, wenn man es teilt!"

schrieb Christopher McCandless

in sein Tagebuch, bevor er einsam

in der Wildnis Alaskas verstarb.

Wie uns Marion Brasch lehrt, gibt

es diese einsame Wildnis auch mitten

im Prenzlauer Berg. Und dies

geschieht allezeit mit einem Augenzwinkern,

was uns gelegentliche

Übertreibungen und allzu flapsige

Formulierungen gern hinnehmen

lässt. Einen grossen Mangel hat

das Buch dann aber doch: Es ist

zu kurz! Die Reise endet nach nur

sieben Tagen. Aber wer sagt denn,

dass dies das letzte Werk von Marion

Brasch sein muss…


Marion Brasch

Wunderlich fährt nach Norden

Roman

Hardcover

S. Fischer Verlag

Preis € (D) 19,99 | € (A) 20,60 | SFR

28,90

ISBN: 978-3-10-001368-2

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