Zum Tod von Sarah Kirsch
Von Olaf S. Ossmann

Am 5. Mai 2013 verstarb im Alter
von 78 Jahren Ingrid Hella
Irmelinde Bernstein. „Wenn
ich es niederschreibe, so bin ich
nicht eigentlich ich.“ sagte eben
diese anlässlich einer Preisverleihung,
die sich aus Empörung über
die Massenvernichtung der Juden
und den fortlebenden Antisemitismus
ihres Vaters seit ihrer ersten
Buchveröffentlichung „Sarah“
nannte. Nach der Eheschließung
mit Rainer Kirsch wurde aus ihr
Sarah Kirsch. Seit dem Ende der
Schulzeit war ihr Thema die Natur.
Zunächst als Forstarbeiterlehrling,
dann als diplomierte Biologin.
Schließlich als Lyrikerin. Mit ihrem
Drang nach Bewegung und Verwandlung
überforderte sie sicherlich
viele. Sowohl die Menschen um
sie herum, als auch ihre Leser.
Wurde sie noch 1973 Mitglied des
Schriftstellerverbandes der DDR,
so weckten sowohl ihre Beziehung
zum West-Berliner Lyriker Christoph
Meckel als auch ihr Protest
gegen die Ausbürgerung des Liedermachers
Wolf Biermann den
Argwohn der Mächtigen. Sie
schlossen sie 1976 zunächst aus
der SED und dem Schriftstellerverband
aus, um sie 1977 endgültig
aus dem Lande zu treiben. Fortan
lebte sie zunächst in West-Berlin
und danach bis zu ihrem Tode in
einer alten Schule in Tielenhemme
in Schleswig-Holstein, die sie zu
einem kleinen Bauernhof umfunktionierte.
Ihre Begleiter waren von
da an Katzen, Schafe und Hunde.
Aus der „Luftspringerin“ wurde
so über die Jahre eine bodenständige,
ja fast statische Beobachterin
der inneren Welt des Menschen.
Diese hielt sie nicht nur in wortgewaltigen
Gedichten, die sich immer
zu komprimieren schienen,
fest, sie betätigte sich auch als Malerin,
schuf Aquarelle, Gouachen
und Collagen. Die vielen Preise,
die sie erhielt (genannt seien der
Heinrich-Heine-Preis der DDR, der
Georg-Büchner-Preis, der Jean-
Paul-Preis, der Peter-Huchel-Preis
und der Johann-Heinrich-Voss-
Preis) prallten förmlich von ihr
ab, wie die Regeln der Grammatik
und der Zeichensetzung. Nach den
erotisch-frivolen Anfängen kehrte
mehr und mehr Melancholie in
ihre Werke ein. Den inneren Dialog
führte sie nicht nur mit sich selbst,
sondern auch mit denen, „die vor
mir gelebt haben“, wie sie es selbst
ausdrückte. In ihren frühen Jahren,
beeinflusst von den Übersetzungsarbeiten,
die sie mit ihrem Mann
vornahm, kommunizierte sie mit
Peter Huchel und Anna Achmatova.
In einem Spätwerk (Schwanenliebe,
2001) verarbeitete sie John Donne’s
(1571-1631) „For God’s sake hold
your tongue, and let me love“ (Um
Gotteswillen, schweig und laß mich
lieben!) zu „Um Gottes / Willen
sagt / John Donne halt dein / Maul
und lass sie ihn lieben.“
Wayne Kvam schrieb treffend über
Sarah Kirsch: „Leser, die zum
ersten Mal Kirschs Gedichte lesen,
müssen daran denken, dass sie
zwanzig Jahre ihres Lebens in einem
totalitären Staat verbracht hat.
Obwohl sie mit vielen der politischen
und gesellschaftlichen Ziele
der DDR Regierung übereinstimmte,
akzeptierte sie den offiziell propagierten
,sozialistischen Realismus’
der DDR Regierung, der die Ästhetik
bestimmte, nie vollkommen.
Sie bestand auf der Gültigkeit von
persönlichen Emotionen und individuellen
Wahrnehmungen, während
sie eine neue kritische Haltung
gegenüber ihrem Heimatland äußerte.
Schließlich versagten die
Restriktionen eines ,sozialistischen
Realismus’ in der DDR, aber nur
den Dichtern wie Sarah Kirsch,
die Willens waren, die notwendigen
Risiken einzunehmen.“
So wirken die Werke von Sarah
Kirsch schon heute wie aus einer
anderen Welt, der Welt der klassischen
Moderne, die mit ihren tiefen
Emotionen die DDR und ihren sozialistischen
Realismus ebenso
überdauerte, wie sie die heutige
schnelllebige Konsumgesellschaft
mit ihren falschen Götzen überleben
wird.